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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

bethätigt. Sorgfältig verschneidet er die überhängenden Zweige, um dem Kleinen Luft und Licht zu schaffen, und freut sich, wenn es ihm gelingt, Leben und Blühen bei demselben hervorzurufen. Wie er Hunderten seiner Mitmenschen geholfen hat und in seiner stillen Weise noch immer hilft, so zieht es ihn auch hier zu den Schwachen; dieser starke Geist, der in seiner Jugend die harte Schule des Lebens durchmachte, der aus eigener Kraft das geworden, was er ist, war immer bereit, von dem Ueberschuß seiner Kraft an den Schwächeren abzugeben, dem zu helfen, der nicht, wie er, es vermocht hat, den Kampf des Lebens zu bestehen ohne andere Stütze als die Energie des Willens und die hart erworbene Fähigkeit des Entsagens. In der Brust dieses schlichten Mannes schlägt ein warmes mitfühlendes Herz, und niemals hat er unter der Last seines Ruhms und seiner Ehren es verlernt, menschlich zu fühlen und zu handeln.

Bis an den Fuß eines mit Fichten dicht bewachsenen Hügels ziehen sich die Anlagen hin. Auf dem Gipfel desselben öffnet sich ein schöner Blick auf den ganzen Komplex des Gutshofes; weit hinten sieht man die Thürme der Stadt Reichenbach. Hier hat der Feldmarschall eine kleine Kapelle erbaut; in derselben steht ein Sarg, die Ueberreste seiner früh verstorbenen Gemahlin enthaltend. Fast täglich besucht er diesen stillen Ort, um einen Blüthenzweig, eine Rose auf den Sarg zu legen und mit entblößtem Haupt der Verstorbenen zu gedenken. Tiefe Stille herrscht hier oben; die dunklen Nadelhölzer stehen ernsthaft umher, und durch die blauglasigen Fenster fällt gedämpftes Sonnenlicht in den kleinen Raum. Um die Thür aber und über das Dach hinweg schlingt eine Kletterrose ihre üppigen Ranken; Tausende von Blüthen und Knospen winken herab mit duftender Pracht und umschließen wie die Verheißung immer neu erstehenden Lebens die Stätte des Todes.

Von dem Gutshof her tönt jetzt die Glocke, welche die Leute nach der Mittagspause zur Arbeit ruft. Es ist 1 Uhr, die Stunde des Mittagessens im Schloß. Eine Viertelstunde vor Beginn desselben wird vor dem Hause das Tamtam gerührt, um alle Bewohner zum Essen zusammen zu rufen; denn nicht einsam lebt der Feldmarschall in diesem. Einer seiner Neffen, ein anerkannt tüchtiger Landwirth, führt ihm die Bewirthschaftung des Gutes; ein zweiter, Hauptmann im Generalstab, ist sein Adjutant und begleitet ihn für den Sommer nach Creisau, mit ihm seine junge Frau, eine geborene Komtesse Moltke, und deren drei Kinder. Diese ganze Familie sammelt sich um den Mittagstisch. Der Feldmarschall ist ein großer Kinderfreund. Willig läßt er sich von den Kleinen aus seinem Arbeitszimmer heraus an den Tisch ziehen; freundlich fragt er nach ihren kleinen Erlebnissen und dankt für die Blumen, die sie ihm während seiner Abwesenheit auf den Arbeitstisch gestellt haben.

Das Mittagsmahl selbst geht rasch vorüber. Der Feldmarschall liebt es nicht, lange bei Tisch zu sitzen. Im höchsten Grade mäßig, ißt er nur wenig und liebt einfache Hausmannskost. Sein tägliches Getränk ist ein leichter Moselwein, von dem er jedoch kaum eine halbe Flasche täglich genießt. Nach Tische wird eine Cigarre angesteckt; dann zieht sich der Feldmarschall zurück, um eine Stunde zu ruhen, die eingelaufenen Zeitungen zu lesen und Unterschriften zu erledigen.

Das Arbeitszimmer des Feldmarschalls ist im höchsten Grade einfach gehalten. Weiße Tüllgardinen vor den Fenstern, damit das Licht frei hereinfallen könne, ein großer offener Schreibtisch mit einem einfachen Rohrsessel davor, ein alterthümliches Sofa mit einem Mahagonitisch machen so ziemlich das Ameublement aus. Ein eigenthümlicher Schmuck ist ein fast die ganze eine Wand einnehmender Stammbaum der Familie Moltke. Es ist dieses eine Arbeit des Feldmarschalls, die Frucht mühevollsten Studiums in vielen ihm bereitwillig geöffneten Archiven und Kirchenbüchern. Vom Jahre 1220 beginnend, wo der Stammvater des Geschlechts, ein Ritter Mathäus Moltke, zuerst aktenmäßig nachweisbar ist, breitet sich die Familie, ohne Unterbrechung von Vater auf Sohn weitergeführt, in die verschiedensten Zweige aus; in Schweden, Oesterreich, Württemberg, Preußen leben Angehörige des Geschlechtes; in Dänemark gehören dieselben zu den reichst begüterten des Landes. Durch fünf Jahrhunderte erhielt sich der alte Stammsitz der Moltkes Toitenwinkel und Samow in Mecklenburg in dem Besitz des Zweiges, dem der Feldmarschall entsprossen ist und der bereits drei Feldmarschälle aufweist. Noch der Vater Moltke’s war in Mecklenburg angesessen, bis die Napoleonischen Kriegsjahre ihm auch diesen letzten Besitz entrissen. Jetzt hat der Feldmarschall sich aufs Neue angesiedelt in den lieblichen Fluren Schlesiens, umgeben von den Schlachtfeldern des großen Königs.

Nachmittags wird, wenn das Wetter es nur irgend zuläßt, spazieren gefahren, immer im offenen Wagen. Wie man den Feldmarschall selbst bei schlechtestem Wetter nie mit einem Regenschirm sieht, so sieht man ihn auch nie im geschlossenen Wagen. Sein eiserner, durch die Strapazen seiner zahlreichen Reisen abgehärteter Körper scheint unempfindlich gegen die Unbilden der Witterung, und wenn er ausfährt, so will er auch sehen. Meilenweit durchstreift er im Wagen die Umgegend. Wenn er eine größere Tour unternimmt, bezeichnet er vorher auf der Karte den Weg, der gefahren werden soll, und giebt nachher aus dem Gedächtniß dem Kutscher die Straßen an, die er einzuschlagen hat, sich niemals auch nur in der Wahl eines Feldweges irrend.

Wenn Besuch im Hause ist, wenn die jüngere Generation der Neffen und Nichten sich um den Chef der Familie versammelt hat, dann liebt es der Feldmarschall, sich Nachmittags am Croquett zu betheiligen. Er kann unermüdlich eine Partie nach der andern spielen, fast immer des Sieges gewiß. Abends um 8 Uhr wird Thee getrunken. Der Morgenkaffee, das Mittagessen um 1 Uhr und Abends der Thee sind die einzigen Mahlzeiten, die der Feldmarschall genießt. Niemals hat er Essen und Trinken als etwas Anderes betrachtet, als die Befriedigung einer natürlichen Nothdurft; niemals hat er den materiellen Genüssen des Lebens eine Herrschaft über sich eingeräumt. Wie er ein mäßiger Esser ist, so ist er auch ein mäßiger Raucher; dagegen ist er, wie Viele, die geistig angestrengt arbeiten, ein starker Schnupfer und geht nie aus, ohne die Dose bei sich zu führen.

Nach dem Thee kommt der allabendliche Whist. Es ist bekannt, daß der Feldmarschall fast keinen Abend hingehen läßt, ohne seine Partie zu machen. Während aller Feldzüge, die er leitete, war die Partie seine tägliche Erholung. Er gebrauchte sie, um seine Gedanken auf etwas Mechanisches abzuleiten, sie gewissermaßen zu einer Ruhepause zu zwingen. Um gut zu spielen, mußte er dem Gang des Spieles aufmerksam folgen, und wie er nichts, was er unternimmt, halb thut, so beherrscht er auch dies Spiel mit vollendeter Meisterschaft.

Sonntags besucht der Feldmarschall regelmäßig die in dem eine halbe Stunde entfernten Dorf Gräditz gelegene Kirche. Meistens geht er zu Fuß hin und zurück. Als ihm einst einer seiner Verwandten Vorwürfe machte, daß er bei Regen und Wind nicht habe anspannen lassen, um zu fahren, antwortete er: „Bei dem Wetter konnte ich doch unmöglich Kutscher und Pferde hinausjagen.“ Diese Rücksichtnahme auf Andere kennzeichnet vollkommen den Mann, der niemals an sich selber denkt, der oft in fast herber Weise ihm gebotene Dienstleistungen zurückweist, von Jugend auf gewohnt, sich selber zu helfen, und dem es peinlich ist, wenn er bemerkt, daß seinetwegen Umstände gemacht werden.

Von Zeit zu Zeit kommt einer der Officiere vom großen Generalstab von Berlin herüber zum Vortrag. Dann kann der Feldmarschall wieder Tage lang am Schreibtisch sitzen, bis die Arbeit beendet ist und er wieder die Muße findet, sich des Landlebens zu freuen. Dann wandelt er wieder unter seinen Bäumen einher: die schlanke Gestalt im einfachen Gehrock ist etwas vornüber gebeugt; der Schritt ist noch immer elastisch und leicht; das gänzlich bartlose Gesicht von zarter blasser Farbe mit seinem fein geschnittenen Profil zeigt die Runzeln des Alters. Aber in diesen festen charaktervollen Kopf hat das Leben nicht die tiefen Furchen eingegraben, welche Genüsse und Leidenschaften hinterlassen; nur die geistige Arbeit hat ihre edlen Linien auf seine hohe Stirn und um die ernsten Augen gezogen. Edel und vornehm ist die ganze Erscheinung, über der wie ein Hauch die Reinheit eines langen Lebens liegt, das nie getrübt wurde von Allem, was niedrig ist.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_526.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2023)