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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

rief zwischen Lachen und Zorn, indem sie die losgegangenen Haare wieder zur Krone schlang und feststeckte:

„Wie dumm! So herunterzufallen! Das ist mir doch noch niemals passirt!“

„Renommire doch nicht so, Gabi,“ versetzte Hans, der inzwischen das Pferd des Doktors gehalten, mit vielem Genuß. „Voriges Jahr lagst Du auch recht schön mit der Nase an der Erde.“

„Nun ja – als ich noch lernte. Uebrigens, Hans, statt hier zu stehen und einfältiges Zeug zu schwatzen, reite hinüber und hole mir meinen Hut – dort hängt er. Und Sie, Herr Doktor, dürfen nicht schelten, Sie sehen, es ist Alles glücklich abgelaufen.“

„Das Schelten hilft nicht mehr, wenn die Dinge geschehen sind,“ sagte er, indem er ihr auf die Füße half und sie voll Besorgniß betrachtete. „Fühlen Sie wirklich keinen Schmerz?“

„Nein, nein, wirklich nicht, und ich glaube, ich bin nicht halb so erschrocken wie Sie.“

Der junge Mann wandte sich ab und hob mechanisch die Reitpeitsche von den nassen Kieseln auf. Das Herz schlug ihm gewaltig, seine Schläfen pochten – war das der Schrecken oder war es der plötzliche Eindruck des weichen jungen Körpers in seinen Armen, der duftigen Haare, die ihm Wangen und Mund gestreift hatten? Er stand wie verzaubert und starrte in die Weidenbüsche am Bachrand, ohne irgend etwas deutlich zu sehen. Hans aber, der glaubte, der Herr Doktor beobachte sein Herüberkommen, lenkte seine Bella säuberlich durch das Wasser und reichte im nächsten Augenblick der Schwester den verlorenen Hut vom Pferde herunter.

Sie stand bereits und wand ihre schwere Schleppe in den Bach aus:

„Wie das trieft,“ rief sie lustig, „das reine Nixengewand! Nun können mich die Leute im Waldschlößchen für eine verkleidete Wasserfrau ansehen!“

Diese Worte riefen den jungen Doktor aus seinem Traumzustande wach; die Besorgniß vor einer möglichen Erkältung erfüllte ihn, er trieb zum Aufsitzen – Gabrielens Pferd war ruhig oben an der Böschung stehen geblieben – und hielt ihr den Steigbügel.

„Ihr nasses Kleid und die Stiefelchen dort zu trocknen ist wohl keine Möglichkeit?“ fragte er mit einiger Bekümmerniß.

„Doch,“ erwiederte sie schon wieder übermüthig, „ich gedenke mir keinen Schnupfen zu holen, um dann die schrecklichen Folgen dieses Morgens noch ein halbes Jahr lang bei jeder Gelegenheit hören zu müssen. Die Wirthin im Waldschlößchen ist eine ehemalige Köchin von Mama, die giebt mir schon so viel trockenes Zeug, als ich brauche, und hängt meine Sachen ans Feuer.

„Also vorwärts!“ rief Doktor Reiter erleichtert, und in scharfem Trabe ging es die letzten Minuten bergan, bis eine weiße Mauer sichtbar wurde und ein eisernes Thor, von einem stattlichen Hirschgeweih überragt, das Ziel der Fahrt anzeigte.

*  *  *

Das Schlößchen von Taxenbach genießt nicht umsonst seines Rufes bei den Residenzbewohnern; es ist der anziehendste Punkt des Waldgebirges, welches die Stadt in weitem Bogen umzieht.

Früher ein Lieblingsort des Hofes, seit fünfzig Jahren von ihm verlassen, ist der ehemals verschnörkelte Park grün überwachsen, im dichten Schatten rauschen die kleinen Bäche und Kaskaden, stille Wiesenflächen ziehen sich zwischen den Waldpartien hin, und hier und da schimmern Marmorfiguren und Vasen unter den Bäumen hervor.

Rückwärts hinter dem zierlichen Rokokobau, dessen vergoldete Prachtsäle dem gewöhnlichen Publikum nicht zugänglich sind, stehen einfache Tische, an denen sich zur Sommerszeit die Gäste drängen und dem berühmten Kaffee und Kuchen der Wirthschaft alle Ehre anthun.

Von diesem Sitze öffnet sich die Aussicht in ein liebliches Wiesenthälchen, das nach einem Hügel hinaufzieht und auf beiden Seiten von Wald gesäumt wird.

Hier saß eine Stunde nach dem Bachübergang unsere Gesellschaft sehr vergnügt im warmen Sonnenschein beisammen. Das Frühstück hatte offenbar vortrefflich geschmeckt. Eier, Schinken, Thee und Butterbrot, wenn auch nur noch in ihren Resten zu ahnen, so daß die Wirthin, welche herzugetreten war, die jungen Herrschaften zu unterhalten, lächelnd fragte, ob sie eine zweite Auflage besorgen solle?

„Bei Leibe nicht, Lisbeth,“ sagte die kleine Bäuerin ihr gegenüber, die sich behaglich im Stuhle schaukelte und ihre grobbeschuhten kleinen Füße in der Sonne wärmte, „bei Leibe nicht, wir müssen heute noch zu Mittag essen. Was machen denn meine Kleider? Können wir in einer Stunde fort?“

„Das Reitkleid wird nicht so schnell trocken,“ sagte die dicke Frau kopfschüttelnd, „aber es ist ja auch nur untenher naß. Die Stiefel können die gnädigste Komtesse schon wieder anziehen.“

„Es gefällt mir aber noch ganz gut in diesen netten Elefantenschuhen,“ sagte Gabriele, ihre Füße gegen einander schüttelnd, „und Blumen müssen wir ja auch noch pflücken, ich muß Mama einen Strauß von den herzigen Veilchen und Primeln mitbringen, die hier überall herumstehen. Kommen Sie, Herr Doktor, komm, Hans,“ rief sie lebhaft aufspringend, „wir wollen einmal sehen, wer die schönsten Blumen zusammenbringt.“

Und jubelnd eilte sie voraus in die Wiese, deren tausend blaue, gelbe und röthliche Blumensterne wie ein bunter Teppich leuchteten, pflückte rechts und links und warf wieder weg, sobald sie noch schönere zu finden glaubte. Richard Reiter blieb an ihrer Seite, aber er pflückte nicht, er betrachtete träumerisch das Knospen und Blühen ringsum und die liebliche Gestalt, die, durch den kurzen Rock und das wollene Mieder nicht entstellt, nur ihm plötzlich so viel erreichbarer und näher schien, die reizende Profillinie, wenn sich Gabriele über die Blumen herabbeugte. Er war seit einer Stunde ein verwandelter Mensch: eine stille Seligkeit erfüllte ihn ganz, der holde Frühlingstag floß mit seinen eigenen Empfindungen in Eins zusammen; die Welt war nicht mehr größer als das kleine Wiesenthal, das für ihn alles Glück der Erde einschloß. Aus solchen Träumereien fuhr er erst auf, als Gabriele plötzlich sagte:

„Nun habe ich genug. Wir wollen uns dort auf die Felsblöcke unter den Tannen setzen und den Strauß ordnen. Wo ist denn Hans?“

„Ich sah ihn vorhin nach jener Richtung laufen, er kommt wohl bald wieder, und von droben übersehen wir das ganze Terrain,“ antwortete Richard, indem er ihr behilflich war, noch eine Hand voll blühender Weidenzweige zu schneiden, und dann der leicht Voranlaufenden zu dem Sitze unter einer alten breitästigen Tanne nachfolgte. Ihr den Arm zu bieten, wagte er nicht.

Gabriele schüttete die Blumen auf den Stein und begann, sie um die Palmkätzchen zu ordnen. Dabei ließ sie diese durch die Finger gleiten, streichelte sie sanft an ihrer Wange und sagte, indem sie sie Richard vorhielt. „Wie sie niedlich sind und wunderbar! Alles ist eigentlich wunderbar, manchmal kommt es mir plötzlich so seltsam vor, daß ich bin und Alles rings umher – woher kommt denn das?“

„Von dem Erwachen eines kleinen Seelchens,“ scherzte Richard, „das dann und wann die Augen öffnet, um ein Bischen nachzudenken, und sich dann schnell noch einmal auf die andere Seite legt.“

„Lachen Sie nur, aber es ist ganz ernsthaft, was ich meine, ich kann es nur nicht so recht ausdrücken.“ Sie nahm einen andern Zweig voll kleiner Knospen. „So ist jetzt der Rothdorn vor dem Schloßthor von Eckartshausen und ein paar Wochen darauf steht er in voller Blüthe. O könnten wir doch noch einmal dort sein, mit Ihnen, den ganzen Sommer lang, nein, immerwährend – ich glaube, ich würde gar kein anderes Glück mehr verlangen!“

So klar und offen blickten ihn die blauen Augen an, während sie dies sagte, ein so vertrauensvolles Kinderlächeln schwebte dabei um ihre Lippen, und doch wurde es dem jungen Lehrer dabei schwül zu Sinne. Der ganze innere Sturm, den er gestern so heftig bekämpft, erhob sich von Neuem; er fühlte, daß er anfange, machtlos zu werden, und rasch, mit einem energischen Entschluß, sagte er nachdrücklich:

„Die Zeiten unseres Beisammenseins haben zum Längsten gedauert, Komtesse Gabriele!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 495. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_495.jpg&oldid=- (Version vom 23.11.2023)