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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

fand, erwachte in ihr der dichterische Beruf. Was in den Herzen der Eltern knospte, was in den andern Kindern keimte, die Wunderblume der Kunst, sie sollte jetzt in der jüngsten Tochter sich zur vollsten Blüthe entfalten.

Schon während ihres Aufenthalts mit der Fürstin in Friedrichsruhe war Eugenie John mit Schuldirektor Kern in Ulm in Briefwechsel getreten, und dieser alte Herr

Marlitt’s Lieblingsplatz.

war es, der sie zuerst auf den Werth ihres schriftstellerischen Talents aufmerksam machte, und nicht vergeblich, denn von da an scheint sie sich im Stillen für die neue Lebensbahn vorbereitet zu haben. Aber erst fast zehn Jahre später, im Jahre 1865, wagte sie sich wieder an die Oeffentlichkeit. Ihr Bruder Alfred übersandte im Auftrag von E. Marlitt an die Redaktion der „Gartenlaube“ eine Dorfgeschichte „Schulmeisters Marie“ und „Die zwölf Apostel“. Verzagt, durchaus nicht überzeugt von dem Werth ihres Talentes, gab sie die längst fertigen Manuskripte dazu her. Und als der Bruder das Packetchen verpackt hatte und ihr es auf dem Weg zur Post noch einmal zum Fenster herauf zeigte, nickte droben der dunkle Lockenkopf und rief: „Ach Gott, meine armen Kinder! – Wie wird es euch ergehen!“

Wir wissen jetzt, daß diese schriftstellerische Laufbahn mit Glück begann. Ernst Keil erkannte sofort den Werth dieser Erzeugnisse, nahm „Die zwölf Apostel“ an und wies „Schulmeisters Marie“ mit der Entschuldigung zurück, daß die durch die Nachahmer Auerbach’s herabgebrachten „Dorfgeschichten“ jetzt durch die „Gartenlaube“ nicht wieder gepflegt werden dürften. – Dieser Erfolg gab Muth zu neuem Schaffen, und nun entstand eine von Marlitt’s lieblichsten Schöpfungen, die „Goldelse“.

Wie groß der Erfolg dieses Romans war, das haben wir bereits im Eingang dieses Artikels geschildert. Der Name E. Marlitt wurde mit einem

Marlittsheim.

Schlage zu einem der volksthümlichsten, und sein Ruf wurde überall hingetragen, wohin die „Gartenlaube“ reichte, die schon damals ihren Leserkreis nach Hunderttausenden zählte.

Freudig ging nun die Dichterin an neues Schaffen und schrieb ihr zweites Meisterwerk „Das Geheimniß der alten Mamsell“. Sie stand in jener Zeit auf dem Gipfel ihres Glücks. Sie erfreute sich noch der blühendsten Gesundheit. Weiß man doch aus jenen Tagen nicht genugsam ihren leichten und eleganten Gang zu rühmen; ja, in Wien hat man lange nicht vergessen, daß Fräulein John eine Tänzerin von unnachahmlicher Grazie war.

Die innere Befriedigung, welche aus der Anerkennung dichterischen Schaffens entspringt, wurde auch durch äußere Erfolge gehoben. E. Marlitt trug sich mit dem Gedanken, auf einer Anhöhe Arnstadts, auf der sogenannten „hohen Bleiche“ sich ein eigenes Heim zu gründen; es sollte ein lauschiges Plätzchen werden, dieses neue „Marlittsheim“; Bruder Alfred, der Oberlehrer an der Realschule zu Arnstadt, würde schon den Bau leiten und für schattige Baumanlagen und blühende Rosengänge sorgen!

Aber in derselben Zeit begann Marlitt’s körperliches Leiden, die Gicht, welche die arme Dulderin nie mehr verlassen hat. Und in das thurmgeschmückte Haus, das zum ersten Male so neugierig in die grüne Berglandschaft Thüringens hinausschaute, zog eine an den Fahrstuhl gebannte Frau ein. Sie konnte nicht mehr fröhlich zwischen den aufblühenden Rosenbäumchen und duftenden Blumenbeeten schreiten; zu dem Lieblingsplatz unter der Kastanie, welche von Jahr zu Jahr breitästiger und blühender wurde, mußte sie an sonnigen Tagen im Rollstuhl gefahren werden. Aber nur äußerlich war die Kraft der Dichterin gebrochen; heiter war ihr Geist geblieben; das Feuer jugendlicher Herzenswärme glühte nach wie vor in ihrer Brust; die Wunderblume der Romantik blühte in ihrem Herzen; ungeschmälert war die Zauberkraft ihrer Phantasie.

Und sie vergaß oft ihre Leiden unter der treuherzigen Obhut ihrer Lieben, die mit ihr das Marlittsheim bezogen; sie fühlte sich glücklich, daß sie fremden Händen die Pflege ihres schwachen Körpers nicht anzuvertrauen brauchte, und sie schuf neue Werke, welche draußen in der weiten Welt Millionen ungeduldig erwarteten, welche, kaum daß sie in der „Gartenlaube“ erschienen waren, schon in fremde Sprachen übersetzt wurden. Ueber die Grenzen des deutschen Sprachgebiets hinaus war inzwischen ihr Ruf gedrungen; nun erzählte sie in allen Kultursprachen ihrer lauschenden Zuhörerschaft in Süd und Nord, in West und Ost jenseit der Marken des Reiches, jenseit des großen Oceans.

Aber je bekannter ihr Name wurde, um so mehr fand sie das Bedürfniß, sich von der Welt zurückzuziehen. Lange war das Geheimniß ihres Namens der Welt verhüllt geblieben; jetzt, wo man endlich erfahren hatte, daß es eine deutsche Frau war, welche so viele Herzen bannte, ließ sie neugierige Blicke in ihr stilles Heim nicht schauen. Geheimnißvoll wurde nun ihr Dulden und Schaffen.

Heute stehen die Räume offen, welche einst so Viele nicht betreten durften; durch das Thor, vor welchem so oft Neugierige und Verehrerinnen abgewiesen wurden, hat man den mit Rosen geschmückten Sarg hinausgetragen. Betreten wir jetzt das Haus, schildern wir das Marlittsheim nach den Angaben ihrer nächsten Vertrauten.




In den unteren Räumen des Hauses ist Marlitt’s Arbeitszimmer gelegen; eines der drei Fenster, gen Norden, läßt die alten Linden der vorüberführenden Allee und manch neugierig spähendes Besucherauge hereinlugen. Die Bäume hätten die Schreibende an ihrem Arbeitstisch sehen können, aber die Menschen nicht, denn just unter diesem Fenster steht ein Blumentisch, dessen große Blattpflanzen jeden Einblick unmöglich machen. In seiner Nähe befindet sich die trauliche Sofa-Ecke, das Asyl der Lese-Abende, wo um den fort und fort tickenden Regulator Bilder und Blumen gruppirt sind. Zur Rechten sieht man ein bescheidenes Bücherregal und nicht weit von demselben steht das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_475.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2023)