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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

sich dagegen, einen Schritt zu thun, der Büchner zu einem Unglücklichen machen mußte. Er nahm den Brief wieder hervor und las ihn noch einmal durch. Sinnend sah er sodann zum Fenster hinaus. Da erblickte er den langen Holländer, der schnellen, entschlossenen Schrittes über den Hof ging und sich dem Arbeitszimmer näherte, in dem Rawlston soeben dessen Schicksal erwog. Gleich darauf wurde heftig angeklopft.

„Herein!“

Die Thür öffnete sich und Büchner trat hastig in das Zimmer und an den Tisch, an dem der überraschte Kaufmann saß.

„Herr Rawlston,“ sagte Büchner – seine Stimme zitterte und hatte einen heiseren fremden Klang – „Herr Rawlston, Sie glauben, ich hätte Ihnen das Geld gestohlen? … Ich? … Herr Rawlston, das ist eine Niedertracht!“

Der Amerikaner war ein Mann aus guter Familie, der bei seinen Mitbürgern in hohem Ansehen stand und an schlechte Behandlung nicht gewöhnt war. Er gehörte nicht zu denen, die sich leicht einschüchtern lassen, und er hatte bei verschiedenen Gelegenheiten Beweise persönlichen Muthes gegeben. Wenn er trotzdem bei dem neuen Schimpf nicht in die Höhe fuhr, oder nach californischen Sitten, die ihm keineswegs fremd waren, – denn er hatte eine Zeit lang in Nevada gelebt – nach dem Revolver griff, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, so erklärte sich dies dadurch, daß sein Vertrauen zu der Ansicht des Polizei-Inspektors im Laufe des Tages erschüttert worden war und er sich kurz vorher gefragt hatte, ob es nicht Unrecht von ihm gewesen sei, seinen Verdacht so bestimmt auszusprechen, wie er es gethan. Aber er war nicht der Mann, der eine Beleidigung, selbst wenn er sie eingestandenermaßen hervorgerufen haben mochte, ruhig hinnahm. Er erhob sich. Er war nicht so lang wie der Holländer, aber er war von stattlicher Gestalt, und wie er sich emporreckte und den Kopf zurückwarf, erschien er eben so groß wie der gebeugte Mann vor ihm.

„Es ist nicht meine Schuld,“ sagte er ruhig, „wenn ein schwerer Verdacht auf Ihnen haftet. Möglicherweise ist es auch nicht die Ihrige. Dann ist es Ihr Unglück. Aber das werden Sie durch Schimpfen nicht besser machen.“

„Wie dürfen Sie sich unterstehen,“ fuhr Büchner auf, „Anderen gegenüber einen unbegründeten Verdacht zu äußern, der mich entehrt!“

„Ich habe nur mit meiner Schwester gesprochen; das war mein Recht und meine Pflicht.“

„Sie haben auch mit Anderen gesprochen, leugnen Sie nicht!“

„Ich leugne nichts. Ich habe in der That auch mit Frau Onslow gesprochen, aber gegen meinen Willen. Sie war von meiner Schwester zu mir gesandt, um mit mir zu sprechen. Sie sind augenblicklich sehr erregt, und ich begreife das, aber wenn Sie fähig sind, eine Minute ruhig nachzudenken, so werden Sie sich sagen müssen, daß ich unter den obwaltenden Umständen meiner Schwester mittheilen mußte, ich könne meine Zustimmung zu ihrer Verlobung mit Ihnen augenblicklich nicht geben. – Ich verzeihe Ihnen das Wort, das Sie gegen mich gebraucht haben; denn ich kann heute keine Rechenschaft dafür von Ihnen fordern. Und damit sei die Sache nunmehr abgethan!“

„Sehr wohl,“ sagte Büchner ingrimmig, „die Sache sei abgethan – aber nur vorläufig! Der Tag wird kommen, da ich Rechenschaft von Ihnen fordern werde. Ich verlasse das Haus heute Abend. – Wem soll ich die Kasse übergeben?“

„Bedenken Sie wohl, was Sie thun, Herr Büchner. Es ist vielleicht in Ihrem Interesse besser, wenn Sie ruhig im Hause bleiben, so daß alle Welt sieht, ich habe Ihnen mein Vertrauen nicht entzogen.“

„Wie können Sie es wagen, so zu sprechen!“ stieß Büchner zwischen den zusammengepreßten Zähnen hervor. „Haben Sie nicht bereits gesprochen? Ist Ihr Verdacht nicht in diesem Augenblick Stadtgespräch?“

„Ich habe mit Niemand gesprochen, als mit meiner Schwester. Wenn diese und Frau Onslow reinen Mund halten wollen, so ist nach außen hin an Ihrer Stellung nichts geändert.“

„Nein“ sagte Büchner, „ich darf nicht wieder mit Ihnen zusammentreffen, es wäre gefährlich für Sie – lebensgefährlich.“ Er ballte die mächtigen Fäuste und schüttelte sie, und dabei nahm sein Gesicht einen furchtbaren Ausdruck an, und sein ganzer Körper bebte. – „Wem soll ich die Kasse übergeben?“

„Herrn Wallice. Aber es ist Ihr Wille; Sie verlassen mich.“

Darauf antwortete Büchner nicht mehr, sondern machte kurz Kehrt und verließ das Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)




Am Postschalter.

Praktische Winke für Jedermann.

Unter den Postsachen, die ich heute Morgen empfing, befand sich ein Brief, dessen Handschrift und Ausgabestempel mir unbekannt waren.

Beim Durchlesen erkannte ich, daß der Brief, dessen am Schlusse genannter Absender mir völlig fremd war, nicht für mich bestimmt sein konnte. Nochmals betrachtete ich die Aufschrift des Briefumschlages. Dieselbe trug in deutlicher Schrift meine Adresse „Ingenieur Müller“. Diese Adresse aber war im Adreßbuche nur einmal vertreten und ein Ingenieur meines Namens hier am Orte, wie ich sicher wußte, nicht weiter vorhanden. Sonderbar! Was sollte ich mit dem Briefe anfangen? Ein solcher Fall war mir bisher noch nicht vorgekommen.

Nachmittags hatte ich im Postamte zu thun. Ich nahm den Brief mit mir. Nach Erledigung meines eigentlichen Geschäfts legte ich dem mir seit lange wohlbekannten Beamten am Schalter unter Mittheilung des Sachverhalts den von mir an der Seite aufgeschnittenen, für mich aber offenbar nicht bestimmten Brief vor.

„Einen Augenblick!“ sagte der Beamte, indem er in ein anstoßendes Zimmer ging, „sehen Sie sich inzwischen nochmals recht genau die Unterschrift des Absenders und dessen etwa beigefügte Adresse an!“

Kaum hatte ich dies gethan, als auch der Beamte mit Licht und einer Stange Siegellack wieder zurück kam. „Bitte nun zunächst Namen und Adresse des Absenders auf der Rückseite des Briefumschlages niederzuschreiben, dann aber hinzuzufügen: ‚Brief ist nicht für mich bestimmt,‘ oder: ‚Inhalt betrifft mich nicht‘ und diesen Vermerk zu unterschreiben.“

Das Verlangte war rasch ausgeführt. Der Sekretär nahm nun den Brief an sich, legte einen in der Mitte gefalteten Papierstreifen um die aufgeschnittene Seite des Umschlages und siegelte – nicht etwa das Postsiegel, sondern meinen Ring mit geschnittenem Stein als Petschaft benutzend – auf Vorder- und Rückseite den Streifen Papier auf den Umschlag, auf diese Art einen völlig sicheren Verschluß herstellend.

„Wenn Sie jetzt noch einen Augenblick sich gedulden wollen, so können Sie sogleich erfahren, ob hier vielleicht doch noch ein Namensvetter existirt, welcher der eigentliche Empfänger des Briefes sein könnte.“ Mit diesen Worten schickte der Sekretär jetzt einen Unterbeamten mit einer mündlichen Bestellung sowie mit einem den Namen des Briefempfängers enthaltenden Zettel zum nahegelegenen Einwohnermelde-Amt. „Vielleicht,“ sagte er dann, „ist der Brief überhaupt nicht nach hier, sondern nach einem ähnlich lautenden Orte bestimmt. Dergleichen kommt öfter vor, als man denken sollte. Sehen Sie nur dies gedruckte und zum Verkaufe an das Publikum bestimmte Heft; es enthält auf 28 Seiten nichts als die Namen – nebst den betreffenden unterscheidenden Bezeichnungen – von gleich- oder ähnlich lautenden Postorten. Eben weil aus einer mangelhaften und ungenauen Adressirung der Briefe etc. sich erfahrungsmäßig schon unzählige Male erhebliche Nachtheile für das Publikum ergeben haben, hat die Postverwaltung, um dem abzuhelfen, dieses Heft als Hilfsmittel für die richtige Adressirung herstellen lassen. Leider wird von diesem Hilfsmittel noch nicht in dem erwünschten Umfange Gebrauch gemacht. Altena und Altona, Ansbach und Anspach, Cappeln und Kappeln, Eisleben und Eilsleben, und viele Hunderte von derartigen Ortsnamen bezeugen es, wie leicht bei undeutlicher Handschrift oder unrichtiger Schreibweise ein beispielsweise an Herrn Bäckermeister

Böhme in Altona bestimmter Brief nach Altena verschlagen werden kann. Existirt dort nun, was doch wahrlich nichts besonders Auffälliges sein würde, auch zufällig ein Bäckermeister

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_456.jpg&oldid=- (Version vom 22.11.2023)