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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Am Dienstag Nachmittag um fünf Uhr, als Büchner gerade zum Essen gehen wollte und seine sämmtlichen Genossen das Komptoir bereits verlassen hatten, war ein chinesischer Kaufmann, der mit dem Hause Rawlston & Co. in regem Geschäftsverkehr stand, in das Kassenzimmer getreten, um noch eine Einzahlung von zehntausend Dollars in Barren zu machen. Der Comprador (chinesischer Kassirer) war gerufen worden, hatte das Gold geprüft und gewogen und es, nachdem er es richtig befunden, in den eisernen Schrank gelegt, wo es bis zum nächsten Morgen aufbewahrt bleiben sollte, um sodann in üblicher Weise zur Bank geschafft zu werden. – Büchner hatte darauf einen Empfangschein ausgestellt, den Schrank geschlossen und sich schleunigst entfernt, um nicht zu spät zum Essen zu kommen.

„Hm!“ sagte Rawlston, „sind Sie sicher, den Schrank zugeworfen und abgeschlossen zu haben?“

„Ganz sicher!“

„Und sind Sie sicher, den Schlüssel mitgenommen zu haben?“

„Ebenfalls ganz sicher! Er steckt an demselben Bund wie andere Schlüssel, die ich noch gestern Abend in meiner Wohnung benutzt habe.“

„Und heute früh?“

„Die Kasse war wie gewöhnlich verschlossen, und ich öffnete sie ohne Schwierigkeit.“

Rawlston setzte sich nieder, gähnte gezwungen und sagte: „Alles wäre demnach in schönster Ordnung: die Schlüssel, das Schloß, die Thüren, die Fenster. – Aber das Geld ist fort! Das ist nicht in Ordnung.“

Darauf wandte er sich an den Comprador und den chinesischen Diener, welche stumme und ernste Zeugen dieser Vorgänge gewesen waren, und sagte. „Ihr könnt jetzt gehen.“ Und als er mit Büchner allein war, fuhr er fort: „Nun, und welchen Vers machen Sie sich auf die Geschichte?“

„Ich zerbreche mir den Kopf darüber.“

Unterdessen waren auch die anderen Angestellten des Hauses angekommen: ihrer sechs an der Zahl. Sie unterhielten sich kopfschüttelnd über den geheimnißvollen Vorfall, und weder der Eine noch der Andere war in der Lage, eine Vermuthung über den Urheber des Diebstahls auszusprechen. Man ging die Namen sämmtlicher Hausbewohner durch, aber hielt sich bei keinem länger als eine Sekunde auf. im ganzen „Hong“ (unter dieser Bezeichnung versteht man alle zu ein und demselben Grundstück gehörigen Baulichkeiten) wohnten nur erprobte, zuverlässige Menschen, auf die kaum ein Verdacht fallen konnte, am wenigsten befand sich darunter Jemand, dem man die nöthige Diebesgeschicklichkeit hätte zutrauen können, in das verschlossene Komptoir zu gelangen und dort die feste Kasse zu öffnen, ohne bemerkbare Spuren des Einbruchs zu hinterlassen.

„Ja, Herr Büchner,“ sagte endlich James Rawlston, „dann machen Sie nur bei der Polizei Anzeige von der Geschichte und gehen Sie lieber selbst auf das Amt und bitten Sie, man möchte die Untersuchung möglichst beschleunigen. – Morgen wird das Gold schon eingeschmolzen sein.“

Büchner, der sich die Sache sehr zu Herzen zu nehmen schien, rief nach seinem „Chair“ (Tragstuhl) und begab sich geraden Weges auf die Polizei. Nach einer halben Stunde kehrte er in Begleitung des ersten Inspektors, eines bewährten alten Londoner Beamten, zurück, der den Geldschrank und alle Eingänge zum Komptoir zunächst aufmerksam untersuchte, und sodann sämmtliche Bewohner des Hauses, die chinesischen Diener sowohl wie die Angestellten des Geschäfts, einem kurzen Verhör unterwarf, wobei er sich flüchtige Notizen machte. An Alle richtete er dieselbe Frage: wo sie seit Dienstag Abend fünf Uhr bis Mittwoch früh acht Uhr gewesen seien, und die darauf bezüglichen Antworten schrieb er auf einem besonderen Bogen nieder. Er machte das geschäftsmäßig und schnell ab, aber es wohnten im „Hong“ mit den Dienern an dreißig Personen, und es dauerte wohl vier Stunden, bis die Untersuchung beendet war. Dann unterhielt sich der Inspektor noch längere Zeit im Geheimen mit Herrn Rawlston, und darauf entfernte er sich.

Die nächsten Tage brachten noch mancherlei Unannehmlichkeiten für die Bewohner des Rawlston’schen Hauses. Einer nach dem Anderen wurde vor den Untersuchungsrichter gerufen, um Beweise dafür anzuführen, daß er die bewußte Nacht vom Dienstag auf Mittwoch in der That so verbracht, wie er in dem ersten Verhör ausgesagt hatte. Büchner konnte bei jener Gelegenheit nicht mehr und nicht weniger zu seiner Entlastung anführen als seine Genossen: er hatte bei einem Freunde, und zwar in Gesellschaft von James und Edith Rawlston zu Mittag gespeist, und er war am Abend nach seiner Heimkehr, noch eine Stunde etwa, im Garten des Hauses mit Fräulein Rawlston spazieren gegangen. Unmittelbar nachdem er diese verlassen, hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen, wo er angab, bis zum nächsten Morgen verblieben zu sein. Zeugen für diese letztere Aussage konnte er nicht aufrufen. Er hatte die Gewohnheit, sich ohne Hilfe eines Dieners auszukleiden, und er schlief allein in seinem Zimmer. Seine Kollegen befanden sich übrigens in dieser Beziehung ganz in derselben Lage wie er. Die beiden Chinesen, die während der Nacht im Hofe Wache gehalten hatten, und zwar in Begleitung eines bösartigen Hundes, der jeden Fremden, der sich in den Hong gewagt hätte, angefallen haben würde – die beiden Wächter erklärten, zu keiner Stunde der Nacht ein verdächtiges Geräusch oder eine verdächtige Bewegung bemerkt zu haben. Das Resultat der Untersuchung war, daß der Diebstahl, aller Wahrscheinlichkeit nach, zwischen fünf und sieben Uhr Abends oder sieben und acht Uhr Morgens, also am hellen Tage, unmittelbar vor dem Beschließen oder nach dem Oeffnen des Komptoirs durch den Hausdiener, aber während der Abwesenheit der Angestellten, welche die Schreibstube zwischen fünf und sechs Uhr Abends verließen und zwischen acht und neun Uhr Morgens wieder betraten – ausgeführt worden sei. Der Dieb war augenscheinlich im Besitz eines Schlüssels zur Kasse und somit in der Lage gewesen, dieselbe schnell und geräuschlos zu öffnen. Er hatte dabei nicht zu fürchten brauchen, daß man ihn von außen beobachten werde, denn da man sich im Hochsommer befand, so waren die Jalousien während des ganzen Tages nicht aufgezogen worden.

Büchner hatte während der Untersuchungszeit Edith Rawlston häufig gesehen, aber kaum gewagt, ihre freundlichen Blicke zu erwiedern; auch die Unterredung mit dem Bruder hatte noch nicht stattgefunden. James Rawlston zeigte üble Laune und schien es zu vermeiden, mit Büchner allein zu sein. Dieser aber war zu schüchtern, um seinen zukünftigen Schwager unter solchen Umständen um Gehör in seiner Herzensangelegenheit zu bitten.

Am fünften Tage nach dem Diebstahl kam Rawlston eines Nachmittags mit sorgenschwerem Gesichte auf das Zimmer seiner Schwester, um ihr nach einer kurzen Einleitung verlegen, aber doch klar verständlich zu sagen, der Polizei-Inspektor sei der festen Ueberzeugung, Büchner und nur Büchner allein könnte die zehntausend Dollars gestohlen haben.

Edith wurde bleich, ihre großen Augen öffneten sich weit und starrten finster und stumm auf den Ueberbringer dieser schlimmen Post.

„Wiederhole das noch einmal!“ sagte sie endlich langsam.

„Der Inspektor ist der Ansicht, Büchner habe den Diebstahl verübt. Er ist der Letzte, den man im Kassenzimmer gesehen hat. Er besaß den Schlüssel zum Geldschrank. Dreißig Pfund Gold nehmen keinen großen Platz ein und können schnell bei Seite geschafft werden. Der Diebstahl ist sofort erklärt, sobald man annimmt, Büchner habe ihn verübt, in jedem anderen Falle ist er unerklärlich.“

„Du solltest Dich schämen!“ sagte Edith leise.

James blickte verwundert auf seine Schwester.

„Du solltest Dich schämen!“ wiederholte diese langsam mit gepreßter Stimme. „Verlaß mein Zimmer, ich mag Dich nicht mehr sehen!“

„Aber, Edith, hast Du den Verstand verloren? Was fällt Dir ein?“

„Ich habe den Verstand nicht verloren, weil ich mir klar mache, wie klein und erbärmlich Du bist.“

„Ich muß Dich bitten, Dich zu mäßigen oder …“

„Nun, oder was?“

Sie hatte bis dahin mit verhaltenem Grimm gesprochen, anscheinend ruhig; jetzt loderten Jugend und Leidenschaft in ihr auf.

„Nun so vollende doch: oder … was?“

„Oder,“ sagte James Rawlston zornig, „ich packe Dich auf den nächsten Dampfer und schicke Dich nach Hause.“

„Wie einen Ballen Seide oder eine Kiste Thee! … Nein, mein Lieber! Du kennst mich noch nicht, gerade wie ich Dich noch nicht kannte. Jetzt kenne ich Dich – und Du wirst mich kennen lernen. Ich kann Dir die Thür nicht weisen, ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_439.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)