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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Die sanften Tage.




Ich bin so hold den sanften Tagen,
Wann in der ersten Frühlingszeit
Der Aether, blaulich aufgeschlagen,
Zur Erde Glanz und Wärme streut;
Die Thäler noch von Eise grauen,
Der Hügel schon sich sonnig hebt;
Die Mädchen sich ins Freie trauen,
Der Kinder Spiel sich neu belebt.

Dann steh’ ich auf dem Berge droben
Und seh’ es Alles, still erfreut,
Die Brust von leisem Drang gehoben,
Der noch zum Wunsche nicht gedeiht.
Ich bin ein Kind, und mit dem Spiele
Der heiteren Natur vergnügt,
In ihre ruhigen Gefühle
Ist ganz die Seele eingewiegt.

Ich bin so hold den sanften Tagen,
Wann ihrer mild besonnten Flur
Gerührte Greise Abschied sagen.
Dann ist die Feier der Natur.
Sie prangt nicht mehr mit Blüt’ und Fülle,
All ihre regen Kräfte ruhn,
Sie sammelt sich in süße Stille,
In ihre Tiefen schaut sie nun.

Die Seele, jüngst so hoch getragen,
Sie senket ihren stolzen Flug,
Sie lernt ein friedliches Entsagen,
Erinnerung ist ihr genug.
Da ist mir wol im sanften Schweigen,
Das die Natur der Seele gab;
Es ist mir so, als dürft’ ich steigen
Hinunter in mein stilles Grab.

 L. Uhland.

Faksimile des Uhland’schen Original-Manuskripts.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 281. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_281.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2021)