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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Im Hausflur stand der Oberförster, sein jüngstes Töchterchen neben ihm. Er nahm die Pelzmütze ab und streckte Lucie die Hand entgegen „Ja,“ sagte er, „ich! Ich habe den Zug in L. verpaßt und komme darum so spät. Ich wollte Dich sprechen Lucie –“ er stockte – „und die Annemarie soll zum Doktor; ich störe doch nicht?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein,“ erwiederte sie und sah ihn an. Er schien so gebeugt, so gealtert.

Mademoiselle, die einen Augenblick gelauscht, machte die Thür geräuschvoll wieder zu, was sie da sah, ging sie nichts an. Peter hatte sich entfernt, nachdem er die Laterne auf einen Bord im Flur gestellt. Die Drei standen noch immer in dem kalten Raume.

„Mich friert,“ sagte die Kleine weinerlich.

„Kommt,“ bat das Mädchen und ging der Treppe zu. Dann wandte sie sich und führte die unerwarteten Gäste in das Eßzimmer. Im Kamin glühten die Kohlen noch und eine der Lampen brannte am Kronleuchter über dem Tisch inmitten der Stube.

„Lege doch ab,“ sagte Lucie zu dem Schwager und knieete vor dem Kinde nieder, um ihm das Mäntelchen auszuziehen. „Ihr seid gewiß hungerig und durstig und erfroren, gleich sollt Ihr essen.“

„Die Kleine vielleicht,“ erwiederte der Oberförster, „ich esse lieber im Hôtel, wo ich wohne. Kannst Du Annemarie hier behalten?“

Er hatte den Pelz abgenommen und sah zu Lucie hernieder, die eben das Hütchen von dem Blondkopf nahm und das Kind küßte und wieder küßte. Sie nickte mit überströmenden Augen. „Was fehlt ihr?“ fragte sie aufstehend.

„Immer noch dasselbe; sie wird von Tag zu Tag magerer. Es ist ja auch kein Wunder.“

Lucie ging in die Küche und bat um etwas Milch und Weißbrot für die Kleine, und dann trat sie an das Bett des alten Herrn.

„Mein Schwager ist ganz plötzlich angekommen,“ sagte sie, mit einer Stimme, aus der man ihre freudige Aufregung erkannte, „sonst wäre ich schon hier und läse die Zeitung vor. Darf ich Mademoiselle an meiner Stelle schicken?“

„Dank! Dank!“ stammelte der Baron. „Was will Remmert? Doch nicht Sie holen, Lucie? Wünscht er mich zu sehen – gerne, gerne!“

„Ich werde ihn nachher schicken,“ erwiederte das Mädchen. „Warum er kommt, weiß ich nicht.“

„Oder lieber morgen früh,“ sagte der Baron. „Ja, das ist besser, besser – bin so müde heut.“ Er reichte ihr die Hand. „Schlafen Sie wohl, Lucie!“

Sie kam wieder in die Eßstube zurück. „Was mochte er wollen?“ Und mit dieser Frage in den großen Augen setzte sie sich still ihm gegenüber in den hochlehnigen Kaminsessel. Er hielt die Kleine auf dem Schoß und sah in die Gluth.

„Wie geht es Dir denn sonst?“ fragte er, ohne aufzublicken, mit leiser, etwas heiserer Stimme, die bei vielen Menschen das Zeichen großer Gemüthserregung ist.

„Ich danke, gut. Und Dir?“

„Wie soll es mir gehen? Du kannst es Dir denken – allein mit den Kindern! Sei nur nicht böse, daß ich Dir nie geschrieben habe,“ fuhr er fort. „Im Anfang wußte ich nicht, was? Ich war so erbittert, auch auf Dich, und jetzt dachte ich: es wäre besser, ich redete selbst mit Dir; Du weißt, ich bin nicht fürs Schreiben.“

Lucie antwortete nicht; ein tiefes Mitleid überkam sie. Sie bemerkte, wie seine Rechte zitterte, die das Kinderhändchen hielt, und wie über sein vergrämtes Gesicht ein Zucken ging. Er sah so unordentlich aus, so vernachlässigt. Und das Kind! Die hübschen blonden Löckchen mittelst Wasser zu glatten Scheiteln gebändigt, das Kleidchen von schwarzem Wollstoff mit aufgedruckten weißen Punkten so bäuerisch im Schnitt; das karrirte Knüpftüchelchen um den Hals an den Ecken zerrissen. „Ich hatte auch schuld,“ sagte sie, „ich bin Dir nicht böse, aber wenn Du wüßtest, wie damals die Verhältnisse lagen! Sprich, Georg, kann ich irgend etwas für Dich thun?“

„Lucie,“ und er ließ das Kind von seinem Schoß und drängte es zu ihr hinüber, „Du weißt, wie ich Mathilde geliebt habe –“

„Ja!“ sagte sie.

„Und Du auch, Du auch! Wenn Du auch damals nicht gekommen bist.“

„Ich auch, Georg, Gott weiß es!“

Er schwieg und zog das rothbunte Taschentuch hervor, und fuhr sich über die Stirn.

„Es geht nicht länger so,“ sprach er, „wenn nicht die Kinder ganz verkommen sollen.“

„Du möchtest, Georg, daß ich –?“

„Die Kousine verträgt sich mit den Erzieherinnen nicht; sie hat vorige Woche die Dritte weggebissen, sie keift den lieben langen Tag im Hause umher, die Kinder haben Angst vor ihr, und ewig sehe ich weinende Gesichter. Ich möchte schelten und strafen, sobald ich mich blicken lasse, und wahrhaftig – nie war Friede mir nöthiger, als jetzt.“

„Du meinst, ich soll kommen, Georg, der Kinder wegen?“ fragte sie noch einmal. „Du weißt es ja, ich wollte schon damals bei ihnen bleiben.“

„Sie sind verlassener, als Du denkst, Lucie,“ sagte er ausweichend.

„Und glaubst Du, daß die Kousine sich mit mir vertragen wird, Georg?“ Sie war aufgestanden und hatte ein kleines Präsentirbrett mit der dampfenden Tasse aus Peter’s Händen genommen.

Er antwortete nicht, er betrachtete sie, während sie das Kind an den Tisch führte, auf den Stuhl hob und ihm die heiße Milch in der Untertasse verkühlte. Es lag wie Angst in seinen Blicken.

„Nein, die Kousine bliebe nicht, wenn Du –“

Lucie kam zurück und stand jetzt vor dem Schwager, ihn erstaunt ansehend.

„Setze Dich,“ sprach er, „ich will Dich etwas fragen.“

Sie saß gehorsam nieder.

„Viel schöne Worte machen kann ich nicht, Lucie,“ begann er tief athemholend.

„Es ist auch nicht nöthig, Georg,“ unterbrach sie mit ihrer müden Stimme, „wenn mich Mathildens Kinder brauchen, so komme ich; sie müssen dann sehen, wie sie hier ohne mich fertig werden.“

„Ja – schön! Aber – Du weißt nicht, wie ich es meine. Ich denke nämlich, Lucie, es wäre das Beste, wir – wir heiratheten uns – wenn Du – wenn ich Dir –“

Er kam nicht weiter. Sie war von ihrem Sitz emporgesprungen und streckte tödlich erschreckt die Hände wie zur Abwehr aus. Sie wollte sprechen, aber brachte kein Wort über die Lippen.

„Denke Dich nur in meine Lage,“ sagte er wie entschuldigend. Er war ebenfalls aufgestanden, nun setzte er sich wieder. „Höre mich doch wenigstens an, Lucie! Ich bin weit entfernt davon, Dir vorzuschwatzen von Liebe und so etwas, ich kann Dir weiter nichts versprechen, als ehrliche rechtschaffene Dankbarkeit für das, was Du an mir und den Kindern thun würdest, Dankbarkeit bis an mein Lebensende. Was hast Du denn so auch, Lucie? Du drückst Dich bei Fremden umher und wirst verdrießlich und verbittert. Für mich verlange ich ja so wenig, aber die –“ er zeigte auf das Kind und ward still; es hing ihm ein großer Tropfen in den Wimpern.

Sie stand noch immer so; nur die Arme waren ihr herabgesunken. Als ob sie bei der geringsten Bewegung in einen Abgrund versinken müsse, so regungslos verharrte sie.

Eine lange Pause entstand. Das Kind glitt von seinem Stuhl und kam herüber mit trippelnden Schrittchen. „Es thut weh,“ sagte es und zeigte auf den Hals. Er nahm das kleine Geschöpf auf seine Kniee und strich ihm über die Löckchen.

„Es wird wieder gut,“ tröstete er leise.

„Warum weinst Du denn, Vater?“ Und das Gesichtchen, das dem Mathildens so ähnlich war, verzog sich ebenfalls zum Weinen. „Mein Kopf thut weh, Vater.“

„Sie hat Hitze,“ bemerkte er gepreßt zu Lucie, „sie wird doch nicht krank werden?“

„Ich will sie ins Bette legen,“ brachte das Mädchen endlich hervor, „komm, Annemarie!“

Die Kleine kam gehorsam zu ihr.

„Ich gehe dann, Lucie,“ sagte er. „Du weißt nun, was ich will, drängen mochte ich Dich nicht; Deine Antwort hole ich morgen. Gute Nacht, Lucie!“

„Gute Nacht!“ klang es tonlos dagegen, aber die Hand, die sich ihr entgegenstreckte, wurde nicht erfaßt. Stumm zog er den Pelz an und nahm den Hut, und stumm ging er aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen.

Sie stand noch immer da und sah in dem Gemach umher; es war ihr, als träumte sie einen furchtbaren Traum.

„Tante Lucie!“ sagte das Kind weinend.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_252.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)