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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


„O bitte,“ klang es gleichgültig. Die junge Frau wandte sich um und begann langsam im Zimmer auf und ab zu gehen. Warum kam er nicht selbst? Hatte er wirklich nicht bemerkt, daß man sich unverschämt gegen sie betragen? Zürnte er ihr so bitter, weil sie diesen Besuch empfin? Er hatte sie so finster angesehen, als er sie bei den Gästen fand. Sie fing Alles ungeschickt an, sie konnte es Keinem recht machen. – Wie käme er auch dazu, darauf zu achten, ob man ihr die schuldige Ehrerbietung gewähre oder nicht? Wenn es Lucie gewesen – –.

Sie hielt an vor dem großen Stellspiegel und schaute hinein; ein heißes entstelltes Gesicht blickte ihr entgegen, die Augen verschwollen wie vom Weinen, der Morgenrock saß so nachlässig. Sie verglich sich mit der zierlichen biegsamen Gestalt in dem schwarzen Wollkleide, das weiße gestickte Schürzchen um die Hüften, die Sammetschleife im blonden Haar, das Schlüsselkörbchen am Arm, so schwebend, so frauenhaft mild und lieblich. War sie denn wahnsinnig gewesen, als sie darauf bestand, dieses Mädchen sich zur Seite zu stellen, mitherzunehmen in ihre junge Ehe?

Sie fuhr zusammen, eben trat Lucie herein. Sie trug ein thauig beschlagenes Glas auf dem Präsentirteller, ein paar Citronenscheiben schwammen darin.

„Trink’, Hortense,“ bat sie freundlich, „es ist Limonade. Du bist so heiß, armes Herz.“

„Ich danke,“ stammelte die junge Frau. Es wäre ihr unmöglich gewesenn, das Glas zu berühren.

„Willst Du auch nicht essen?“ fragte das Mädchen.

„Nein!“

„Soll ich Dir Deinen Mann schicken, Hortense? Vielleicht müßte man den Arzt fragen.“

„Ich will nicht, daß Du Waldemar schickst, er wird vielleicht – vielleicht von selbst – –“ Sie sank auf den nächsten Stuhl bei diesen Worten. sie fühlte, es war ihr nicht länger möglich, sich aufrecht zu halten.

„Hortense, komm, ich bringe Dich zu Bette,“ bat Lucie.

„Laß mich allein!“ rief heftig die junge Frau, unfähig sich noch länger zu beherrschen, „ich bitte Dich!“

Lucie stand regungslos; ein unendliches Erschrecken prägte sich auf ihrem Gesichte aus. „Bist Du mir böse? Was that ich Dir?“ fragte sie leise.

„Quäle mich nicht! Thue mir den Gefallen und laß mich allein!“

Still ging das Mädchen hinaus. Auf dem Korridor begegnete ihr die Jungfer; sie schickte sie hinein mit der Weisung, zu fragen, ob die gnädige Frau irgend etwas wünsche.

Ein Weilchen stand Lucie wartend; das Mädchen kam nicht zurück; Hortense hatte ihre Hilfe angenommen. Verständnißlos saß Lucie dann in ihrer Stube und fragte sich vergeblich, was sie Hortense gethan. Sie fand nichts. Eine große Bangigkeit, wie die Ahnung eines bevorstehenden Unglücks, überkam sie; das Zimmer erschien ihr fremd und unwohnlich in der tiefen Dämmerung; sie zündete die Lampe an und meinte, so trübe habe sie noch nie gebrannt. Aus dem Gartensaal, der sich unter ihrem Zimmer befand, schollen die Stimmen der Tafelnden. Der Hausherr hatte hier serviren lassen, als wollte er die Gäste den Gemächern fern halten, die Hortense bewohnte.

Gegen halb zehn Uhr klopfte es an Luciens Thür; sie saß noch auf demselben Fleck. „Hortense!“ dachte sie und wandte den Kopf, es war Frau Rein.

„Ja ja, Sie sitzen hier und die gnädige Frau liegt drüben, und meine schönen Forellen stehen da unberührt im grünen Zimmer, und vom Rehbraten ist kein Stückchen gegessen.“

„Wie geht es Frau Weber?“ fragte Lucie.

„Sie liegt ganz still und rührt sich nicht. Der Herr war einmal bei ihr, wird aber ebenso wenig eine Antwort erhalten haben wie ich. Es sind lauter Räthsel hier im Hause, Fräulein,“ plauderte die alte Frau weiter und setzte sich behaglich auf einen Stuhl. „Der Officier, der so Hals über Kopf mit Herrn Rostau davon fuhr, ist vorhin allein wiedergekommen, dann ist er mit dem Hauptmann von Röder eine lange Zeit im Garten auf und ab gegangen, und nun wieder fort. – Ich wollte schon, die Herren gingen endlich ihrer Wege; ich habe Angst, die Gnädige ist kränker, als wir denken. Ich faßte einmal ihre Hand; sie war so heiß wie ein Plätteisen.“

Lucie hielt es nicht länger aus; sie schlich hinüber zu dem Schlafzimmer. Die rothe Ampel brannte unter dem Zeltdach; regungslos lag die junge Frau in den weißen Kissen. Leise trat das Mädchen an das Lager und bog sich herab.

„Hortense!“ flüsterte sie angstvoll, „laß mich bei Dir bleiben.“

Eine abwehrende Handbewegung war die einzige Antwort.

„Hortense, erbarme Dich, sage, warum Du mir zürnst! Wenn ich Dich gekränkt habe, will ich Dir abbitten, – Du weißt ja, wir hielten es immer so,“ flehte Lucie mit einer Stimme, die nach verhaltenen Thränen klang.

Hortense führ mit ihrer Hand an die Schläfen; es lag eine so nervöse Ungeduld in dieser Bewegung, daß Lucie sich wandte und ging.




Am anderen Tage saßen Lucie und der junge Hausherr allein beim Mittagessen einander gegenüber. Hortense war nicht aufgestanden; sie hatte sich durch Frau Rein Frühstück ans Bette bringen lassen und dieselbe, so zu sagen, als Krankenwärterin in Anspruch genommen. Waldemar Weber war den ganzen Morgen schon mit besorgter Miene zwischen Hortense’s Lager und seinem Schreibtisch hin und her gewandert. Nun aßen sie schweigend, das heißt, Lucie nahm ein paar Löffel Suppe; es ward ihr schwer, zu sprechen; die schlaflose Nacht, die Angst hatte sie angegriffen. Sie hatte auf einmal das Gefühl verloren, als sei sie hier daheim, und damit kam die Reue geschlichen über leichtsinnig Verlornes, so stark und weh, wie es noch niemals gewesen.

Sie hatte das Zimmer der jungen Frau nicht mehr betreten; aber sie glaubte doch jeden Augenblick, Waldemar oder die Jungfer oder Frau Rein würde kommen, um sie zu rufen. Vergebens!

„Darf ich bitten, Fräulein Lucie,“ sagte Waldemar am Schluß des Mittagessens, „daß Sie sich in ungefähr einer Stunde in mein Zimmer bemühen? Ich habe Ihnen etwas mitzutheilen – eine Bitte.“

Sie nickte stumm.

„Ich fahre heute Abend fort und bleibe möglicherweise bis morgen Abend aus, ich habe dort – doch später davon, jetzt muß ich noch Einiges an meinem Schreibtisch besorgen.“ In der Thür wandte er sich noch einmal. „Was haben Sie mit Hortense?“

„Nichts! Ich frage mich vergeblich, was ich ihr gethan.“

„Sie wissen auch nicht, was gestern dieser Herr Rostau zu ihr sprach?“

„Nein, Hortense hat schon lange, lange kein Vertrauen mehr zu mir.“

„O, es ist nichts, wird nichts sein,“ tröstete er zerstreut und verließ das Zimmer.

Lucie machte einen Gang durch den Park. Sie pflegte sonst immer hinauszutreten, um einen Strauß Feld- oder Wiesenblumen für die junge Frau zu pflücken, heute unterließ sie es. Sie setzte sich außerhalb des Parkes auf einem Hügel nieder, an dessen Abhange sich die zum Gute gehörige Kirschplantage hinzog, und blickte in das Land hinein, bis wo die Berge sich dunkelblau am Horizont erhoben. Die Felder vor ihr waren abgeerntet, an den Zweigen der Ebereschen hingen die Beeren in purpurner Röthe, und da flog durch die warme Luft des Septembertages der erste Bote des Herbstes, ein langer silberglänzender Faden.

Sie saß da stundenlang, nur zuweilen den Kopf nach dem Park wendend, durch dessen üppiges Laub das Schlößchen schimmerte. Mitunter machte sie eine Bewegung, als wolle sie aufstehen und zurückkehren, blieb aber, einer andern Regung nachgebend, doch festgebannt an ihrem Platz. Endlich hörte sie Schritte und ging nun rasch dem Parkthore zu.

Hinter ihr kam ein Mann, ein Postbote, die kleine schwarze Mappe in der Hand. Er schritt grüßend an ihr vorüber. Als sie gleich nach ihm den Park betrat, wandte er sich: „Eine Depesche an Fräulein Walter.“

„Bitte, geben Sie.“ Sie bezahlte den Mann und las stehen bleibend:

„Baron gestern Abend Schlaganfall, einseitig gelähmt. Suchen

Sie Hortense schonend zu benachrichtigen.

Bertin.“ 

Auch das noch! Wie würde diese Nachricht auf Hortense wirken! Sie ging langsam dem Hause zu.

„Der Herr hat nach Ihnen gefragt, Fräulein,“ scholl Frau Rein’s Stimme aus dem Souterrain.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_227.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)