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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

hörte den Ausruf des Schreckens, als der Baron plötzlich schwankte und wie leblos in des jungen Ehemannes Armen lag.

Eine Scene unbeschreiblicher Verwirrung folgte. Man drängte sich um den regungslos daliegenden alten Herrn, sprengte ihm Wasser ins Gesicht und rief nach dem Arzt. Nicht lange dauerte es, bis Doktor Adler, welchen die ausgeschickten Diener zufälligerweise auf der Straße gefunden hatten, erschien.

„Aengstigen Sie sich nicht, gnädige Frau, es ist nur eine Ohnmacht,“ sagte er, nach kurzer Untersuchung, „die Aufregung, die schwüle Gewitterluft.“ – Er nahm ihn wie ein Kind auf die Arme und trug ihn hinaus. Hortense und ihr junger Gatte eilten ihm nach, die Andern blieben leise redend beisammen.

„Er konnte so lange nicht stehen,“ bemerkte der alte Major und strich sich den silberweißen Schnurrbart, „ich hab’s ihm vorhergesagt, er sollte sich einen Stuhl bringen lassen, aber sein Wahlspruch war von jeher: ‚Lieber todt als unhöflich!‘“

Zu Lucie, die wie schwach an der Wand lehnte, trat der junge Hamburger. Man sah ihm die ungemüthliche Stimmung an.

„Das war schon mehr eine Grabrede,“ sagte er so leise, daß der Prediger, der mit Mademoiselle sprach, nichts davon hören konnte, „als ob mindestens in Jahresfrist der Eine oder Andere von dem Paar gestorben sein müßte; wie ich bemerkt zu haben glaube, sehen sie weder nach Schwindsucht aus, noch leiden sie an Altersschwäche.“

Aber das blasse stille Mädchen hatte kein Lächeln für den Scherz. Sie dachte an Mathilden und sagte leise. „Es kann so rasch kommen, und wenn man etwas versäumt hat gegen den Andern, so thut es lebenslang weh.“

Der junge Mann machte die Augen weit auf, ihm schauerte förmlich; so jung, so reizend und so düster – und das sollte er ertragen während eines langen Diners? Er würde froh sein, wenn er erst wieder gen Hamburg dampfte, und morgen Mittag wollte er Robert Synkoff auf der Börse davor warnen, sich jemals in eine Kleinstädterin zu verlieben, er könne sich ebenso gut eine Trauerweide in den Garten pflanzen.

„Adler,“ sagte Waldemar Weber, als der alte Herr wieder zu sich gekommen, während er an Hortense’s Arm dem Speisezimmer zuschritt, „thue mir den Gefallen, bleib’ hier; es ist doch eine ängstliche Geschichte, und –“

„Ich kann nicht, Waldemar, wahrhaftig nicht; aber ich komme gegen halb sechs Uhr vor und frage nach, wie es geht. Lebe wohl, und wenn ich Dich nicht wiedersehen sollte – dann alles Glück der Welt, mein alter Freund!“

In wenig Minuten war die kleine Gesellschaft im Speisesaal versammelt, auch der Baron war wieder erschienen; er hatte sich rasch erholt und wollte durchaus an dem Diner theilnehmen. Er saß oben vor der Tafel zwischen dem Brautpaar. Das Gespräch wand sich mühsam weiter. Mademoiselle und der Prediger, der alte Major von Schenk thaten das Meiste dabei. Der Herr Pastor brachte einen Toast aus auf das neuvermählte Paar, der Major auf den Baron. Dann sprach man von der russischen Politik, von Italien und der Cholera. Erst gegen das Ende der Mahlzeit wurde es etwas lebhafter. Der jüngere Weber bot Lucie ein Vielliebchen an, sie dankte. Bei Mademoiselle war er glücklicher, er ließ sie auch sofort gewinnen und fragte zart nach ihren Wünschen. Ein charmanter, ganz charmanter Mann! dachte entzückt die alte Dame und wünschte sich einen japanischen Fächer, roth mit Goldstickerei, recht groß. Lächelnd notirte er es in seiner Brieftasche.

Als das Eis servirt wurde, winkte Hortense Lucien zu sich. Das Mädchen schob einen Stuhl zwischen den des Barons und der jungen Frau, und nun saßen sie Hand in Hand und flüsterten mit einander. In diesem Augenblick trat Doktor Adler in das Gewölbe, er blieb verborgen hinter der Orangerie des Altares stehen und sah durch die zurückgeschlagene Portière auf die hochzeitliche Tafel, welcher der offenbar wieder vollständig hergestellte Baron präsidirte. Seine Augen blieben an den beiden jungen Frauenköpfen hängen, die sich neben dem Baron zu einander geneigt hatten. In der wunderlichen Beleuchtung, welche Kerzenschein und Tageslicht mit einander schufen, glänzte des Mädchens Haar wie gesponnenes Gold über der bleichen Stirn. Zuweilen bog sich Hortense ein wenig vor, und der Spitzenschleier umgab dann Luciens Gesicht, als trage sie den bräutlichen Schmuck, und sein Herz klopfte in der Erinnerung an die Träume, die einst der Verwirklichung so nahe gewesen. – Wo würde sie eine Heimath finden? Ob Remmert sie gutmüthig wieder aufnehmen wird? Er kannte das herbe Urtheil, das der Oberförster über das Mädchen gefällt, als seine sterbende Frau nach der Schwester verlangte und sie nicht kam. Es durchzuckte ihn der Gedanke, an Remmert begütigend zu schreiben, sollte das junge schöne Geschöpf so allein in das häßliche gefahrvolle Leben hinaus?

Er schüttelte den Kopf; wie kam er dazu. Was ging ihn ihr Schicksal noch an? Mochte sie auf das Meer des Lebens hinaus treiben, mochte ihre Fahrt glücklich und ruhig sein, oder mochte sie untergehen – er hatte kein Recht an ihr, wollte auch keines haben.

Nun rückten die Stühle, Hortense hatte sich erhoben. Er trat rasch in eine der tiefen Fensternischen, als fürchte er gesehen zu werden; er wollte ihr nicht noch einmal begegnen.

Dort drinnen wurde jetzt Kaffee gereicht, die lebhafte Unterhaltung dauerte fort. Warum ging er nicht? Was hielt ihn denn zurück? Der Baron bedurfte seiner offenbar nicht mehr. Und dennoch kam er seltsamer Weise nicht vom Fleck. Er betrachtete zerstreut die bunten Fensterscheiben; nach und nach fesselte ihn, was er sah, es waren uralte Glasmalereien, er wußte, daß der Baron ein eifriger Antiquitätensammler.

Ein junger Patricier in der ernsten Tracht des sechzehnten Jahrhunderts stand in einer gewölbten Halle mit weiter Perspektive auf getäfelten Fußboden. „Wernher Grundmann“ war darunter zu lesen. Auf der andern Seite des Fensters in gleicher Umgebung erblickte Adler ein junges blondes Weib in reichen farbigen Gewändern, das goldgestickte Frauenhäubchen auf demüthig gesenktem Kopf, die Spindel in der Hand. „Und Barbara Grundmannin, da sie dreien Wochen mit einander vermählet“, las er hier; die Schrift war auf beide Seiten vertheilt, auch der folgende Vers und das Datum:

„Wo Er ist fest und treu gesinnt,
Und Sie mit Demut dem hause dient,
Und Gotteswort wird recht geehrt,
Da ist ein reiches Glück beschert.
  Lübecke anno domini 1536.“

So war es heut nicht mehr! Er konnte sich nicht satt schauen an dieser Barbara; es lag eine so unendliche Anmuth über der Gestalt, der Maler mußte ein holdes Vorbild gehabt haben. Er begann diesen längst vermoderten Wernher Grundmann noch jetzt zu beneiden, er glaubte, diesen leicht zur Seite geneigten zierlichen Kopf, das holde Lächeln um den Mund zu kennen. Hastig fuhr er sich mit der Hand über die Augen.

Dann stockte sein Athem – das Rauschen einer seidenen Schleppe drang in das Zimmer und leichte Füße traten die Stufen.

„Schließ’ die Portière, Luz,“ hörte er Hortense sagen, „und laß uns Abschied nehmen. Komm, setze Dich auf diesen Tritt. Weine nicht, Liebling, wir sehen uns ja wieder – in drei Wochen schon, denk’ an mich indessen.“

„Leb’ wohl, Hortense,“ antwortete die weiche Mädchenstimme, „werde glücklich; ich kann Dir nichts Besseres wünschen, als daß Du ihn bald von Herzen liebgewinnen möchtest.“

„Du weißt ja am besten, Luz, Liebe ist ein Geschenk vom Himmel, sie läßt sich nicht kommandiren und erzwingen.“

„Ich weiß es; ich weiß aber auch, daß man dieses Geschenk zuweilen längst besitzt, ohne es zu ahnen, sie schläft und man merkt ihre Gegenwart gar nicht, und plötzlich erwacht sie durch einen Zufall und schaut um sich mit blauen sonnigen Augen – oder mit Thränen, die sich niemals wieder trocknen lassen! Und das ist, wenn sie zu spät erwacht und die Reue kommt und spricht: ‚hättest Du nur Geduld gehabt – nun ist’s vorbei für immer, immer!‘“

„Ach, Luz, trockne die Thränen! Ich sage Dir, es ist Alles nur Einbildung, mache mir das Herz nicht noch schwerer, gieb mir noch einen Kuß und gehe hinein zu unseren Gästen! Auf Wiedersehen, Luz!“

Es war still im Zimmer, nur das Knistern der Seide klang zu dem Manne hinüber, der regungslos vor dem Bilde der Frau Barbara stand. Nun ein leises Schluchzen, noch einmal ein Lebewohl, dann schritt die junge Frau der Thür zu, die nach dem Flur führte, und auf der andern Seite schlossen sich die Vorhänge hinter einer weißen Gestalt. Er war allein.

Was hatte er gehört? Bereute sie? Bereute sie wirklich? Es war ihm, als müsse er ihr nacheilen und sagen: „Komm, Lucie, es soll vergessen sein, Alles vergessen, was Du mir

angethan.“ Dann schüttelte er den Kopf, und seine Hand ballte

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