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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Wäschspind so wichtig und hastig, so laut und lärmend, daß Lucie meinte, das Läuten des Schlüsselbundes müsse die Hausfrau in ihrem Todtenschlummer noch stören.

„Ich brauche keine Hilfe, Fräulein,“ war die Antwort gewesen, als sie sich fast demüthig zum Helfen anbot. Selbst die alte Rike wehrte ihr unter Schluchzen als sie sich erbot, in der Küche zu helfen.

„Lassen Sie doch, Fräulein Lucie, das ist nichts für Ihre Hände. Ach Gott, Sie hätten ja gar nichts zu thun brauchen im Hause, wären Sie nur hier gewesen bloß zum Trost für die Frau, sie konnte gar nicht zum Sterben kommen, Fräulein, von Allen hatte sie Abschied genommen und sprechen konnte sie schon nicht mehr, aber die Augen gingen immer noch nach der Thür. Sie hat gewartet, so lange, Fräulein, aber Sie kamen nicht.“

Das Mädchen stand mit gefalteten Händen am Herd, an dem sie einst so fröhlich geschafft. Weinen konnte sie nicht mehr. Stumm saß sie auch inmitten der Trauergesellschaft. Die Freundinnen der Verstorbenen, die Frau Pastorin aus dem nahen Dorfe und die Frau des Direktors der Zuckerfabrik, sprachen theilnehmend mit ihr, als der Leichenzug im Waldwege verschwand, sie hörte nicht und antwortete nicht. Und so starr und stumm war sie auch jetzt noch. Endlich schlich sie hinauf in ihre kleine Stube und legte sich aufs Bett, in welchem sie glückliche Jugendträume geträumt, und horchte in die Stille hinaus. – Ein seltsamer Zustand war es. Sie versuchte sich zurückzuversetzen in die Zeit, da noch hier ihre Heimath war, und wunderbar – es gelang ihr. Halb wachend, halb träumend hörte sie die Uhr schlagen und sah den Mond durch die Bäume lugen, er malte zitternde Flecke auf den weißgescheuerten Fußboden. Der kleine eiserne Ofen in der Ecke sah in dem ungewissen Lichte aus wie eine Frau mit langer Taille und spitzer Haube. Sie hatte ihn einst in einer fieberhaften Krankheit als solch Wesen angesehen, und die Erinnerung war ihr geblieben – sobald die Dämmerung kam, stand die Frau in der Ecke. Auch heute wieder. Auf der Birkenkommode die kleine Porcellanvase – warum war sie leer? Hatte sie heute keine Blumen gepflückt, als sie im Walde gewesen mit den Kindern? – Horch, war das nicht Mathildens Stimme? Nein, Mathilde war krank, wie immer, aber da sprach Jemand.

Das ist er ja, ihr Bräutigam! „Alfred!“ sagte sie und richtete sich empor mit jähem Erschrecken. Nein, sie mußte sich getäuscht haben! Wo war sie denn eigentlich?

Sie richtete sich vollends auf und hielt sich wie im Schwindel an der Bettpfoste. Nun scholl das hohe kreischende Frauenorgan herauf. „Das Begräbniß? Grundgütiger, das ist vorüber! Sie wollten ihr die letzte Ehre geben? Morgen? Lieber Himmel! Nun, ein Bett haben wir schon für Sie, Herr Doktor, treten Sie ein. Mein Vetter wird bald wiederkommen, er ist grad ins Holz gegangen.“

Das Mädchen setzte sich nieder, die schreckliche Gegenwart stürmte mit aller Macht auf sie ein, und nun er noch, er! Wie lange sie so verharrte, wußte sie nicht, im Hause war es wieder still.

„Geht einmal gleich zu Bette, allez marsch!“ scholl es plötzlich wie Trompetenton, dann ein bitterliches Kinderweinen. „Gott erbarme, vor was fürchtet Ihr Euch denn? So ein Unsinn!“ klang es wieder. Und nun trappelten kleine Füße die Treppe empor.

Des Mädchens Herz krampfte sich zusammen. Sie dachte, wie Mathilde jeden Abend an dem Bette der Lieblinge gesessen, bis sie eingeschlafen waren. Und sie stand plötzlich auf den Füßen und lief in das Kinderzimmer, welches dem ihren gegenüber lag. „Soll ich Euch zu Bette bringen?“ fragte sie. Da hingen die Kinder an ihr wie die Kletten, schluchzend und kosend.

„Seid still,“ flüsterte sie, „damit das Schwesterchen nicht aufwacht.“

„Wir gehen sonst immer allein zu Bette, aber wir fürchten uns heute so,“ weinte die kleine Christine. „Der Dammköhler hat gesagt, acht Nächte lang käme die Mutter und sähe zu, ob wir auch gut versorgt würden,“ flüsterte die Aelteste, und in dem mondhellen Gemach sah Lucie deutlich die von unsagbarem Grauen erfüllten Kinderaugen. Sie zog die Kleinen an sich. „Eure Mama ist beim lieben Gott im Himmel,“ sagte sie, „und bittet ihn, daß es ihren Kindern wohlergehe. Wiederkommen, Ihr armen Würmer, wird sie nicht.“

Die Kleinen begannen abermals bitterlich zu weinen. Lucie küßte und beruhigte sie und half ihnen die Nachtröckchen anziehen. Sie saß dann, wie früher Mathilde, zwischen den Bettchen nieder.

„Soll ich Euch etwas erzählen?“

„Ja!“ rief der Junge, der hinter einem Vorhange seine Schlafstelle hatte. „von Rom, Tante! Die Mutter sagte, Du hättest das Kapitol gesehen und wenn Du kämest, dann könntest Du es uns beschreiben.“

Sie faßte an die Stirn. „Rom! – Ja –“ murmelte sie.

„Onkel Alfred hat mir ein Buch von Rom geschenkt, Tante, ich möchte einmal hin, gelt – es ist schön?“

„Onkel Alfred hat uns heute eine Tüte mitgebracht, aber die Kousine hat sie eingeschlossen.“ flüsterte eins der kleinen Mädchen. „Morgen muß sie uns aber etwas davon geben, sonst sagen wir es dem Onkel, ehe er fortfährt.“

Er blieb also die Nacht hier! – Das Mädchen stand in furchtbarer Unruhe auf. Nur ihn nicht sehen müssen, nur das nicht! – Sie setzte sich wieder, weil die Kinder aufs Neue klagten, daß sie Furcht hätten. „Schlaft, schlaft.“ sagte sie gepreßt, „morgen will ich Euch viel erzählen.“

Gehorsam schwiegen sie; sie lagen mit großen offenen Augen und starrten in den weißen Mondenschein, der durch die unverhüllten Fenster drang. Nichts war zu hören, als ihr Athemholen. Da klangen Schritte auf dem Gange draußen, die das Mädchen emporfliegen ließen. Hastig sah sie sich um – wohin konnte sie entweichen? Vergebens, nur die eine Thür führte hinaus. Aber dort, hinter dem großen Kachelofen –. Sie flüchtete hinüber in den schwarzen Schatten und setzte sich auf die alte Truhe, in der die Wäsche der Kinder aufbewahrt wurde. Und nun öffnete sich die Thür, und er trat über die Schwelle. In dem hellen Mondlichte sah sie jeden Zug seines Gesichtes. Sie preßte die Hände auf das Herz, so ungestüm begann es zu klopfen. Nahe an ihr schritt er vorüber, durch die offene Röhre des Ofens gewahrte sie, wie sich seine große Gestalt über eines der Bettchen beugte. „Schläfst Du schon, mein Mäuschen?“ hörte sie ihn sagen. Unendlich weich klang seine Stimme.

„Nein, Onkel,“ kam es schlaftrunken zurück.

„Fürchtet Ihr Euch noch?“

„Nein!“ flüsterte die Kleine, und ein weißes Aermchen schlang sich um seinen Hals. „Tante Lucie hat uns zu Bette gebracht.“

Er fuhr empor. „Tante Lucie?“ fragte er.

„Eben war sie noch hier,“ wisperte Anne Marie, „da hat sie gesessen. und dann ist sie fortgelaufen, ich hab’s wohl gesehen.“

„Thut Dir Dein Hälschen noch weh? Hast Du gestern einen nassen Umschlag bekommen? Nicht? Aber heute mußt Du ihn haben – sage Tante Lucie, daß sie ihn Dir umlegt, Mäuschen, Tante bleibt nun bei Euch, nicht wahr?“

„Onkel!“ schrie der Junge, „die Kousine will sie gar nicht, sie sagte vorhin, solche Prinzessin könnte ihr nichts nützen.“

„Tante ist so fein, so fein,“ versicherte das kleine Mädchen, „und sie hat so geweint.“

„Möchtet Ihr gern, daß sie hier bleibt?“

„Famos wär’s!“ rief der Junge, „sie ist in Rom gewesen und kann etwas erzählen.“

„Bittet sie nur, sie bleibt gern.“

„Sag Du’s ihr doch, Onkel,“ rieth der Junge.

Er stand jetzt aufrecht. „Mein alter Schelm,“ sagte er bitter, „das würde wenig helfen! Schlaft wohl, Ihr Kinder.“

„Onkel, soll ich Tante Lucie von Dir grüßen?“ fragte Anne Marie. Er antwortete nicht, er stand mitten im Zimmer, mitten in dem bläulichen Glanz, ohne zu ahnen, daß nicht weit von ihm heiße stille Thränen über ein blasses Mädchengesicht herabflossen, daß sich Lucie krampfhaft an die Truhe klammerte, als müßte sie sich festhalten, um nicht hinüber zu kommen und mit gesenktem Kopf vor ihn zu treten und zu sagen: „Vergieb mir, was ich Dir gethan!“

„Was denn?“ fragte sie sich, aber sie fand keine Antwort. Und sie sah ihn an durch diese Thränen und fühlte sich so klein und so schlecht und so elend!

Langsam wandte er sich und schritt zur Stubenthür hinüber. „Gute Nacht!“ sagte er noch einmal, dann war er gegangen. Und Lucie schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte.

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