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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Lucie half ihr die leichte Umhüllung abzulegen.

„Meine liebe Hortense,“ sagte sie herzlich und strich ihr die blasse Wange und beugte sich zu ihr nieder. „Komm, laß uns abreisen, Du wirst krank hier –.“

Da fuhr die junge Frau empor wie außer sich. „Warum?“ rief sie, „habe ich ein Verbrechen begangen? Muß ich mich verstecken? Wie kommst Du zu solchen Vorschlägen – was glaubst Du eigentlich von mir? Hast Du vielleicht Angst, daß ich – ich – noch einmal –?“ Sie stockte.

„Nein, Hortense, ich habe keine Angst,“ sagte Lucie ruhig; „ich meinte es nur gut, denn ich sehe, wie Du leidest.“

„Dann siehst Du Hirngespinste, mein Kind,“ fuhr Hortense noch heftiger fort. „Zur Verzweiflung hast Du mich im Theater gebracht mit Deinen mitleidig-ängstlichen Blicken! Als ob ich eine Irrsinnige, so hast Du mich behandelt, Du kompromittirst mich ja völlig! Ich muß Dich bitten, derartige unerwünschte Theilnahme künftig zu unterlassen.“

Lucie stand wie ein Wachsbild vor der jungen Frau; es waren die ersten unfreundlichen Worte, die sie aus ihrem Munde hörte. Unfähig ruhig zu bleiben, ging sie in ihr Zimmer und setzte sich an das offene Fenster. Es lag nach der Elbe zu. Aus dem schmalen Garten unter ihr stieg der Duft von Flieder und blühenden Sträuchern empor; drüben ragten schwarz die Thürme und Dächer der Neustadt in den sternenbesäeten Nachthimmel, und in dem schwärzlichen breiten Strom spiegelten sich tausend Lichter. Ueber die große Brücke fluthete das Leben der Residenz, Menschen in dunklem Gewimmel, erleuchtete Pferdebahnwagen und Droschken mit blitzenden Laternen; aus einem Vergnügungslokale schallten heitere Musik und Menschenstimmen.

Sie hörte und sah es nicht. Sie starrte auf das Treiben wie im Traume, das Herz klopfte ihr vor bitterem Weh, vor maßloser Sehnsucht nach dem Frieden, den sie früher besessen. Sie sehnte sich nach den sanften Worten der Schwester, die ihr eine zweite Mutter gewesen, nach ihrem Stübchen, vor dessen Fenstern die Linde rauschte, nach dem Daguerreotyp der verstorbenen Mutter über der birkenen Kommode. „Ach, nur noch ein einziges Mal dort, nur einmal!“ flüsterte sie. Und dann wischte sie sich hastig über die Augen – unabweisbar wie jeden Tag drängte sich wieder ein kleines trautes Haus in ihre Erinnerung, von hohen Bäumen umstanden, von der Abendsonne vergoldet.

Aber sie wollte nicht daran denken, sie wollte nicht; etwas Anderes – rasch! – Dieser Herr Weber, was beabsichtigt er? Sie zwang ihre Gedanken zurück nach Venedig, da war er ihnen im Hôtel auf der Riva dei Schiavoni zum ersten Male entgegen getreten und von da ab ihnen unablässig gefolgt, nach Padua, nach Bologna. In Florenz, in der Galerie Pitti, hatte er bei Gelegenheit eines von Hortense verlorenen Fächers sie angesprochen und war mit höflichem, aber sehr kurzem Danke abgefunden worden. In Rom aber war er plötzlich neben ihnen vor der Fontana Trevi wie ein Schatten aufgetaucht, um sie während der ganzen Woche nicht wieder aus den Augen zu lassen. Er hatte sie auch einmal aus unangenehmer Lage befreit: als sie in ihrem Wagen beim Karneval in ein gar zu arges Getümmel geriethen, saß plötzlich eine breitschulterige Gestalt, das Gesicht hinter einer Drahtmaske verborgen, auf dem Rücksitz des Wagens und empfahl sich ehrerbietigst, als sie im Hôtel anlangten. Und so war er ihnen auch fernerhin gefolgt auf der ganzen Reise, bis man ihn durch eine Kriegslist auf andere Spur geführt. Und jetzt hatte er sie doch gefunden, und Hortense zeigte sich liebenswürdig gegen ihn –. Lucie war in diesem Augenblick brennend eifersüchtig auf den großen Thüringer.

Dann mußte sie lächeln. Hortense hatte ihn heute Abend offenbar als Maske benutzt, hinter der sie ihr Leid verbarg.

„Arme Hortense!“ Sie erhob sich und ging zur Thür hinüber. „Sie ist unglücklich,“ dachte sie, „und Du bist von ihr gegangen wegen eines unfreundlichen Wortes, das ihr der Schmerz erpreßte.“

Hortense stand jetzt am Fenster und sah auf den Platz hinab, sie wandte sich auch nicht, als Lucie eintrat. Auf dem Tische brannte die Lampe, und daneben lag ein Brief. Lucie erkannte die grauen billigen Kouverts, die man im Hause der Schwester zu benutzen pflegte.

„Briefe?“ fragte sie, „heute Abend noch? Ich habe ihn vorhin wohl übersehen,“ fügte sie hinzu, als keine Antwort kam. Sie ergriff das Schreiben, es war die Hand ihres Schwagers. Ein rasches ängstliches Herzklopfen stellte sich ein – was mochte geschehen sein, daß er schrieb? Sie riß den Umschlag auf – gottlob, es waren der Schwester Schriftzüge, aber mit Bleistift geschrieben, und nicht halb so zierlich wie sonst. Lucie setzte sich auf den nächsten Stuhl, zog die Lampe näher und las:

 „Meine kleine gute Lucie!

Nun wirst Du wohl schon eine ganze Weile in Dresden sein und hast meinen versprochenen Brief, der Dich dort erwarten sollte, vielleicht nicht einmal vermißt. Oder doch? – Von Dir hatte ich recht lange keine Nachricht, Du hältst ordentlich Kerbholz, Lucie. Wenn Du gewußt, wie ich mich nach ein paar Worten von Dir gesehnt habe auf meinem Krankenlager, Du hättest sicher geschrieben, das weiß ich. Georg wollte Dir, als es am schlimmsten war, telegraphiren, aber ich habe es nicht erlaubt, Du solltest Dich nicht ängstigen, und die weite, weite Reise allein und in so großer Herzensangst wollte ich Dich nicht machen lassen.

Nun geht es mir ja wieder besser, der Husten ist nicht mehr so quälend und meine Brust ist freier, ich habe wieder Vertrauen in die Zukunft. Der Sommer ist vor der Thür und ich sehe meinen Mann und die Kinder wieder an, ohne daß mir Thränen die Augen trüben. Mein armer Mann, Lucie, er war ganz verzweifelt! Du kennst ihn ja, er ist nicht von langer Geduld. Und als unser guter Doktor Feldner nach seiner Meinung nicht rasch genug Besserung schaffte, reiste er eines Tages nach Hohenberg und brachte mir Doktor Adler ans Bette. Mich regte dies Wiedersehen furchtbar auf, Lucie, ich mußte bitterlich weinen, ich meinte, ich solle ihm abbitten in Deinem Namen. Aber er war so ruhig und theilnehmend und rührte nicht an die Vergangenheit.

Nun ist er schon öfter gekommen, ich habe ja auch das meiste Vertrauen zu ihm. Das letzte Mal, als er mich besuchte, lag gerade Dein Brief aus Pallanza auf meinem Bette. Er war da mit einem Male ganz blaß. Ach, Lucie, warum mußte es so kommen? Die Sorge um Dich hat mir schwere Stunden gebracht! Wenn ich so still in meiner Stube lag, die Kinder draußen umhersprangen und Georg im Dienste war, dann hatte ich so recht Zeit, mich zu grämen. Ich denke immer, es wäre Deine Pflicht gewesen, Dich mit ihm einzuleben, Dich in ihn zu finden, Du gabst ihm doch Dein Wort. Ich gönne Dir von ganzem Herzen all das Schöne, von dem Du so begeistert schreibst, aber ich meine, Du hast Deinen Freudenthron auf den Trümmern Deines wahren Glückes erbaut! Du schreibst mir, die Freundschaft habe ihre großen unbestrittenen Rechte, sei so heilig und unantastbar wie das Band, das Eltern und Geschwister und Ehegatten verknüpft. Es mag sein, ich kann mich da nicht hinein denken. Der liebe Gott erhalte Dir diese Freundschaft und bewahre Dich vor Enttäuschungen!

Werde ich Dich bald einmal sehen? Könntest Du Deine Hortense nicht auf ein paar Tage verlassen, um einmal wieder an meinem Bette zu sitzen? Die Kinder sprechen so viel von Dir, und wie schön könntest Du erzählen! Komm doch, Lucie!

Ich will nun schließen, ich bin recht matt. Einen treuen

Gruß von Deiner

Schwester Mathilde.“     

Das Mädchen saß ganz still, als sie geendet, dann heftete sie ihre großen trostlosen Augen auf Hortense. „Ich muß fort!“ sagte sie halblaut.

Die junge Frau kam vom Fenster zurück und trat an den Tisch. „Wie?“ fragte sie.

„Ich muß fort, Mathilde ist krank. Morgen, am liebsten heute noch!“

Sie stand auf und preßte den Brief in der Hand zusammen; dann ging sie mit langsamem Schritt in ihr Schlafzimmer und setzte sich auf den Bettrand.

„Schlecht bin ich gewesen, schlecht und pflichtvergessen!“ sagte sie laut, und das weiße schmale Gesicht der Kranken und ihr einsames Zimmer tauchten vor ihr auf. Wer würde bei ihr sein? Ab und zu der Schwager, der nach kurzer Zeit wieder geht, „weil er ja doch nicht helfen kann“ – die alte Dienstmagd, wenn sie gerade Zeit hat, die kleinen Mädchen schleppen wohl auch einmal ein Sträußchen Waldblumen herein und geben der

fiebernden Mutter zu trinken, aber sonst – – sie schlug die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_119.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)