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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Michael! Du bist es?“

„Hochwürden!“ klang es in der gleichen Ueberraschung zurück. „Sie hier?“

„Die Frage gebe ich Dir zurück. Du bestimmtest uns ja erst übermorgen, und hätte Hertha nicht, wie von einer Ahnung getrieben, die Abreise beschleunigt –“

„Hertha ist hier? Mit Ihnen? Wo ist sie?“ fiel Michael stürmisch ein, und als der Pfarrer auf die Thür im oberen Stock deutete, die auf die Treppe mündete, hörte Michael nichts weiter, sondern war in drei Sprüngen die Treppe hinauf, riß die Thür auf, und in der nächsten Minute lag Hertha in seinen Armen.

So leidenschaftlich und zärtlich dies Wiedersehen war, so kurz war es auch. Rodenberg hielt seine Braut noch umfaßt; aber das erste Wort, das er zu ihr sprach, war ein Abschiedswort.

„Ich kann nicht bleiben! Nur sehen wollte ich Dich, nur im Fluge einen Augenblick des Glückes erhaschen – ich muß fort!“

„Fort?“ wiederholte Hertha, die sich noch halb betäubt von Schreck und Freude an ihn schmiegte. „Jetzt, in der Minute des Wiedersehens? Das kann nicht Dein Ernst sein.“

„Ich muß,“ beharrte er. „Vielleicht ist uns übermorgen noch ein Wiedersehen gegönnt.“

„Vielleicht nur! Und wenn es nun nicht geschieht? Hast Du zum Lebewohl nicht einmal eine Viertelstunde für mich übrig?“

„Meine Hertha, Du ahnst nicht, was es mich kostet, Dich jetzt zu verlassen; aber die Pflicht ruft – ich muß gehorchen!“

Die Pflicht! Hertha hatte dies eiserne Wort oft genug von dem General gehört und kannte seine Bedeutung. Ein paar beiße Thränen rollten aus ihren Angen, aber sie machte keinen Versuch mehr, den Geliebten zu halten. Er preßte seine Lippen noch einmal auf die ihrigen.

„Lebewohl! Und noch Eins – Raoul ist hier. Er könnte trotz alledem einen Versuch machen, sich Dir zu nahen, wenn er Dein Hiersein erfährt. Versprich mir, ihn nicht zu sehen oder zu sprechen.“

Ein verächtlicher Ausdruck flog über die Züge der jungen Gräfin.

„Er wird es nicht wagen, das verbietet ihm schon ihre Nähe.“

„Wessen Nähe? Wen meinst Du?“ fragte Michael, der in höchster Spannung aufhorchte.

„Heloise von Nérac!“

„Sie ist hier? Und Clermont –?“

„Auch er.“

„Gott sei gelobt! Wo – wo sind sie?“

„Hier im Hause, in dem Giebelzimmer – aber so erkläre mir doch –“

„Ich darf nicht! Frage mich nicht, folge mir nicht! Es hängt Alles davon ab, daß ich sie finde, und dann – dann darf ich auch bei Dir bleiben.“

Er stürmte hinaus, an dem Pfarrer vorüber, der ihm gefolgt war und nun erstaunt und bestürzt dastand; auch Hertha begriff diese Scene nicht, aber sie klammerte sich an das letzte Wort des Forteilenden: „Dann darf ich bei Dir bleiben!“

Das Giebelzimmer, wo ein einsames Licht brannte, war noch dürftiger ausgestattet als die anderen Räume; aber die Fremden, die heute Mittag angelangt waren, hatten ohne viel Wahl und Besinnen genommen, was man ihnen anbot, da sie nur bis zum Abend zu bleiben dachten. Sie waren Beide in Reisekleidung und augenscheinlich jede Minute zur Abfahrt bereit. Henri Clermont ging unruhig im Zimmer auf und nieder, während Heloise in dem alten Lehnstuhl saß, der hier die Stelle eines Sofas vertrat.

„Wieder ein Aufschub von zwei Stunden!“ sagte sie in einem Tone, der fast verzweifelt klang. „Es scheint, als sollten wir niemals vorwärts kommen. Wir hofften morgen früh schon die Grenze zu erreichen, aber daran ist jetzt nicht mehr zu denken.“

„Und das ist einzig und allein Deine Schuld!“ fiel Henri gereizt ein. „Welche grenzenlose Unvorsichtigkeit, französisch zu sprechen, als wir nach dem Wagenwechsel wieder einsteigen wollten! Du mußtest doch wissen, daß die aufgeregte Menge auf dem Bahnhofe das für eine Herausforderung nehmen und uns insultiren würde.“

„Konnte ich denn wissen, daß der deutsche Pöbel so empfindlich ist? Uebrigens waren es nur einzelne Schreier; das Publikum legte sich selbst ins Mittel und nahm uns in Schutz; das spätere Einschreiten der Beamten war gar nicht mehr nothwendig.“

„Ganz recht, aber über diesem Einschreiten und Beschwichtigen ging der Zug ab, während wir, von allen Seiten umdrängt, nicht an den Wagen gelangen konnten. Wir haben einen halben Tag verloren, jetzt, wo an jeder Minute unsere Sicherheit hängt! Ueberdies haben wir die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns gezogen und müssen froh sein, daß wir in diesem elenden Gasthofe unbemerkt verschwinden konnten. Wir dürfen uns erst kurz vor der Abfahrt wieder auf dem Bahnhofe zeigen; man könnte trotz alledem auf unserer Spur sein.“

„Unmöglich! Selbst wenn die Sache schon entdeckt sein sollte, Raoul wird jedenfalls schweigen.“

„Raoul hat sich wie ein Unsinniger benommen!“ sagte Clermont heftig. „Es fehlte nicht viel, daß er Lärm machte und mich verrieth. Hätte ich ihm nicht zugeraunt: ‚Denke an Heloise! Sie ist mit mir verloren!‘ er hätte mich preisgegeben.“

„Und jetzt wird der ganze Sturm auf ihn hereinbrechen – wenn wir in Sicherheit sind!“

Heloisens Stimme bebte doch etwas bei den Worten, aber Clermont zuckte ungeduldig die Achseln.

„Das läßt sich nun einmal nicht ändern. Ich oder Raoul! Es gab keine andere Wahl, nachdem die Sache so weit gekommen war.“

Die Unterredung war selbstverständlich französisch, aber in so leisem Tone geführt worden, daß man außerhalb des Zimmers kein Wort vernehmen konnte. Jetzt aber sank die Stimme Henri’s vollends zum Flüstern herab, als er zu seiner Schwester trat:

„Du hast ihn nicht leicht aufgegeben, ich weiß es; aber der Preis ist das Opfer werth. Was ich hier bei mir trage, sichert unsere ganze Zukunft. Daraufhin können wir jede Bedingung stellen, man wird sie uns –“

Er brach plötzlich ab und wandte sich nach der Thür, die geöffnet wurde, und Heloise fuhr mit einem Ausruf des Schreckens empor. In dem Augenblick, wo sie den Mann erblickte, der dort auf der Schwelle stand, wußte sie auch, daß es aus war mit allen Plänen und Berechnungen. Sie hatte diese „kalten, stahlharten Augen“ nicht umsonst gefürchtet; sie brachten ihr und dem Bruder jetzt das Verderben.

Rodenberg schloß die Thür und näherte sich den Beiden.

„Herr von Clermont, ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, weßhalb ich hier bin. Ich hoffe, Sie ersparen mir alle Umstände; dann können wir in fünf Minuten mit einander fertig sein.“

Clermont war leichenblaß geworden, aber er machte doch einen Versuch, seine Fassung zu behaupten.

„Wovon sprechen Sie, Herr Hauptmann? Ich verstehe Sie nicht.“

„So muß ich wohl deutlicher reden. Ich wünsche die Papiere, die aus dem Schreibtische des General Steinrück gestohlen sind. – Bitte, lassen Sie die Finger von Ihrer Brusttasche, Sie sehen, ich habe auch eine Pistole zur Hand, und ich schieße vermuthlich besser als Sie. Uebrigens dürfte es für Sie sehr unangenehm sein, wenn hier Schüsse gewechselt werden; der Bahnhof ist in unmittelbarer Nähe und von Truppen überfüllt, da dürfte eine Flucht unmöglich sein. Also fügen Sie sich!“

Clermont hatte in der That die Hand sinken lassen, die sich vorhin an der Brusttasche zu schaffen machte.

„Und wenn ich mich weigere?“ fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.

„So haben Sie die Folgen zu tragen! Der Krieg ist erklärt, und das Standrecht kennt ein sehr abgekürztes Verfahren für Spione. Ich lasse Ihnen die Wahl; ein Wort von mir, und Sie sind verloren.“

„Sie werden aber dies Wort nicht sprechen,“ sagte Clermont höhnisch. „Denn alsdann würde auch ich reden, und was ich zu sagen habe, dürfte einem der kommandirenden Generale Ihrer Armee mehr als unangenehm sein.“

Die Drohung traf einen wunden Punkt, aber Michael brach ihr mit schneller Geistesgegenwart die Spitze ab.

„Sie irren,“ entgegnete er kühl. „Graf Raoul Steinrück ist hier, mit mir auf Ihrer Spur, und um dieser Entdeckung willen wird man ihm wohl die Bestürzung und Kopflosigkeit eines Augenblickes verzeihen. Jetzt aber genug der unnützen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 899. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_899.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2022)