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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

auch Mühe gab, die furchtbare Aufregung seines ganzen Wesens zu beherrschen – sie verrieth sich nur zu sehr.

„Ich glaube, Zeit und Ort sind schlecht gewählt zu einer Aussprache,“ sagte er. „Aber sei es darum! Wir haben allerdings noch abzurechnen wegen der Eröffnungen, die Sie im Namen der Gräfin Hertha meinem Großvater machten. Ich hätte Sie jedenfalls später deßwegen zur Rede gestellt.“

„Darum handelt es sich jetzt nicht,“ unterbrach ihn Michael kalt. „Ich habe eine andere Frage an Sie zu richten. Sie sind auf dem Wege nach Straßburg – was wollten Sie dort?“

„Was soll der Ton?“ rief Raoul empört. „Sie vergessen, daß Sie mit dem Grafen Steinrück sprechen.“

„Ich spreche im Namen des Generals Steinrück, der mich gesandt hat, um die Papiere zurückzufordern, welche Sie bei sich tragen, und deren Werth Sie eben so gut kennen wie ich.“

Der junge Graf zuckte zusammen, als habe ihn ein Schlag getroffen.

„Die Papiere? Mein Großvater glaubt –?“

„Er und ich! Und ich denke, wir haben ein Recht dazu. Bitte, keine Weitläufigkeiten! Ich habe nicht viel Zeit zu verlieren und bin entschlossen, nöthigenfalls Gewalt anzuwenden. Wollen Sie es darauf ankommen lassen?“

Raoul starrte ihn noch immer wie geistesabwesend an; plötzlich aber schlug er die Hände vor das Gesicht und stöhnte auf:

„Ah – das ist furchtbar!“

„Sparen Sie die Komödie!“ sagte Rodenberg herb. „Mich täuschen Sie nicht damit. Der Schreibtisch des Generals ist erbrochen, das Schriftstück gestohlen, und der Diener, der unvermuthet das Arbeitszimmer betrat, fand den Dieb –“

Ein wilder Aufschrei Raoul’s unterbrach ihn; und Raoul machte eine Bewegung, als wolle er sich auf ihn stürzen. Michael trat zurück und legte die Hand an seinen Degen.

„Mäßigen Sse sich, Graf Steinrück! Sie haben das Recht auf schonendere Behandlung verloren.“

„Es ist aber eine Lüge!“ brach Raoul jetzt mit furchtbarer Heftigkeit aus. „Nicht ich – Henri Clermont war es!“

„Ich habe niemals daran gezweifelt, daß Clermont der Anstifter war, sah ich ihn doch selbst zu jener Stunde in den Park schleichen. Die Hand zu dem schmachvollen Werke lieh ein Anderer; der Fremde, der Franzose hatte schwerlich Zutritt zu den Zimmern des Generals.“

„Aber zu den meinigen! – Er hatte den Schlüssel zur Gartenpforte und zu meinem Schlafzimmer. Mein Großvater war stets gegen ihn eingenommen; meine Mutter war es zuletzt auch; wir wollten uns der ewigen Kontrolle, den ewigen Vorwürfen bei Henri’s Besuchen entziehen. Ich ahnte ja nicht, zu welchem Zwecke er den Schlüssel von mir forderte!“

Michael lehnte mit gekreuzten Armen am Tische und verwandte kein Auge von dem Sprechenden; aber man sah es, daß er der Erzählung nicht glaubte.

„Also der Sohn des Hauses öffnete dem Spion die Thüren? Und wie gelangte dieser zu dem Geheimfach, das jedem Fremden verborgen war? Wie fand er die Feder, deren Druck es allein zu öffnen vermochte?“

„Er kannte meinen Schreibtisch, der die gleiche Vorrichtung enthält; es ist ein Geschenk meines Großvaters, nach dem Muster des seinigen angefertigt.“

„Ah so – nun weiter!“

Raoul ballte krampfhaft die Hände.

„Rodenberg, treiben Sie mich nicht zum Schlimmsten! Sie haben einen Verzweifelnden vor sich, der nichts mehr schont. Sie müssen mir glauben, müssen meinem Großvater den furchtbaren Verdacht nehmen; sonst würde ich diesem Ton und dieser Miene nicht Rede stehen. – Ich kam gestern spät nach Hause und fand die stets verschlossene Thür offen, die meine Zimmer mit denen des Generals verbindet und zu der nur wir Beide den Schlüssel haben. Das weckte meinen Verdacht; ich trat in das Arbeitszimmer und fand den Mann, den ich bisher Freund genannt hatte –“

„Bei seinem Geschäft!“ ergänzte Michael, „Sie scheinen ihn nicht darin gestört zu haben, da er Zeit fand, den Raub zu vollbringen.“

„Er hatte ihn bereits vollbracht! Während ich noch fassungslos dastand, niedergeschmettert von der schrecklichen Entdeckung, hörten wir die Thür des Vorzimmers öffnen, hörten nahende Schritte. Henri faßte in Todesangst meinen Arm und beschwor mich, ihn zu retten. Er war verloren bei der Entdeckung; das wußte ich, und da stürzte ich nach der Thür und verhinderte dem Diener einzutreten mit der Erklärung, daß ich hier sei. Als der Mann sich zurückgezogen hatte und ich mich umwandte, war Clermont – entflohen.“

„Und Sie eilten ihm nicht nach, jagten ihm seinen Raub nicht ab? Sie theilten dem General nicht mit, was geschehen war?“

Raoul’s Auge sank scheu zu Boden, und kaum hörbar entgegnete er:

„Es war mein nächster, bester Freund, der Bruder einer Frau, die ich bis zum Wahnsinn liebte und die ich damals noch für schuldlos hielt. Am nächsten Morgen eilte ich zu ihnen; sie waren abgereist, und eine Stunde später wurde mir eine andere furchtbare Enthüllung – da setzte ich jede Rücksicht bei Seite und jagte ihnen nach.“

Er schwieg wie erschöpft und lehnte sich auf den Stuhl. Michael hatte anscheinend ruhig zugehört, aber es zuckte verächtlich um seine Lippen, und jetzt richtete er sich empor.

„Sind Sie zu Ende? Meine Geduld ist es auch; ich kam nicht hierher, um Märchen zu hören. Her die Papiere, oder Sie zwingen mich, Gewalt zu brauchen!“

„Sie glauben mir nicht?“ fuhr Raoul auf. „Noch immer nicht?“

„Nein, ich glaube kein Wort von dem ganzen Lügengewebe! Zum letzten Male, liefern Sie mir die Papiere aus, oder, beim ewigen Gott, ich mache das Wort wahr, das mein Großvater mir beim Abschiede zurief: entreiße sie dem Lebenden oder – dem Todten!“

Ein Schauer flog durch den Körper des jungen Grafen – da war sie wieder, die seltsame Aehnlichkeit! Er kannte diese flammenden Augen, diese Stimme mit ihrem ehernen Klang; war es ihm doch, als stehe sein Großvater selbst vor ihm und spreche ihm das Todesurtheil.

„So vollziehen Sie Ihren Auftrag!“ sagte er dumpf. „Und dann überzeugen Sie sich, daß der – Todte nicht gelogen hat.“

Es lag etwas in dieser dumpfen Ergebung, was mächtiger wirkte als die leidenschaftlichsten Betheuerungen. Auch Michael verschloß sich diesem Eindrucke nicht. Er wußte, daß Raoul genug persönlichen Muth besaß, um etwas, das er sich nicht entreißen lassen wollte, auf Leben und Tod zu vertheidigen, und zu ihm tretend legte er die Hand schwer auf seinen Arm.

„Graf Raoul Steinrück, im Namen des Mannes, von dem wir Beide stammen, fordere ich die Wahrheit. Sie haben die Papiere nicht, an denen die Sicherheit unserer Armee hängt?“

„Nein!“ sagte Raoul tonlos, aber fest, und zum ersten Male begegnete sein scheues Auge wieder dem des Fragenden.

„Dann hat sie also Clermont?“

„Zweifellos – sie müssen in seinen Händen sein.“

„So verliere ich hier nutzlos die Zeit; dann heißt es ihm nachjagen und ihn einholen! Der Zug, der mich gebracht hat, geht in einer halben Stunde weiter – ich muß nach dem Bahnhofe!“

Er wandte sich zum Gehen, aber der junge Graf hielt ihn zurück.

„Nehmen Sie mich mit! Verschaffen Sie mir einen Platz in dem Militärzuge! Wir haben den gleichen Weg –“

„Nein, den haben wir nicht!“ unterbrach ihn Michael eisig. „Bleiben Sie zurück, Graf Steinrück! Ich werde wahrscheinlich in den Fall kommen, Herrn von Clermont mit der Pistole in der Hand die Papiere abzuzwingen, und Sie könnten sich im entscheidenden Augenblick doch wieder erinnern, daß es Ihr ‚nächster, bester Freund‘ ist und daß Sie seine Schwester ,bis zum Wahnsinn lieben‘.“

„Rodenberg, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort –“

Ihr Ehrenwort?

Es war nur eine kurze Frage, aber sie klang so vernichtend, daß Raoul verstummte. Der Hauptmann fuhr in demselben mitleidslosen Tone fort:

„Wenn Sie das Schlimmste nicht thaten, so haben Sie das Schlimmste doch zugelassen und mit Ihrer Person gedeckt. Hochverrath ist Eins wie das Andere; der Hehler ist so schlimm wie der Dieb – das ist meine Meinung von der Sache.“

Er ging, ohne einen Blick zurück zu werfen. Als er den Hausflur durchschritt, wurde eine der Thüren geöffnet, und Valentin erschien auf der Schwelle. Er stand einen Augenblick wie erstarrt vor Ueberraschung und trat dann rasch vor.

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