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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Sankt Michael.

Roman von E. Merner.
(Fortsetzung.)


Das drohende Wetter war losgebrochen; die Kriegserklärung war erfolgt, und jetzt überstürzten sich die Ereignisse in so wilder Hast, daß jede persönliche Angelegenheit und jedes persönliche Interesse von ihnen überfluthet wurde.

In der Wohnung des Marquis von Montigny stand Alles gepackt und reisefertig. Er war zurückgeblieben, um in Vertretung des Gesandten das Letzte zu ordnen, wollte nun aber auch in einigen Stunden abreisen. Vorher schien er jedoch noch Jemand zu erwarten, denn er trat von Zeit zu Zeit an das Fenster und spähte ungeduldig hinaus. Endlich meldete der Diener den jungen Grafen Steinrück, und dieser trat ein.

Raoul sah ungewöhnlich bleich aus, und in seinem ganzen Wesen lag etwas seltsam Verstörtes, das seinem Oheim jedoch nicht besonders auffiel; in jetziger Zeit war ja Alles in fieberhafter Erregung. Er reichte ihm flüchtig die Hand.

„Hast Du mein Billett erhalten? Ich stehe im Begriff abzureisen, aber ich mußte Dich unter allen Umständen vorher noch einmal sprechen.“

„Ich hätte Dir jedenfalls Lebewohl gesagt,“ entgegnete Raoul. „Die Mama wird freilich trostlos darüber sein, daß Du nicht einmal Abschied von ihr hast nehmen können.“

„Ich muß sofort nach Paris zurück,“ erklärte Montigny achselzuckend. „Deine Mutter hat mir aber bereits von Steinrück aus geschrieben, und eben dieser Brief zwingt mich, mit Dir zu sprechen.“

Der junge Graf richtete sich mit vollem Trotze auf, denn er wußte, was jetzt folgen würde. Hortense hatte dem Bruder, den sie bei ihrer schnellen Abreise nicht mehr gesehen hatte, brieflich ihr Herz ausgeschüttet, und es galt nun, einen Sturm auch von dieser Seite zu bestehen. In der That hielt sich der Marquis nicht mit einer Einleitung auf, sondern ging sofort zu der Hauptsache über.

„Deine Verlobung mit Hertha ist gelöst, wie ich höre! Auch mir ist es unbegreiflich, wie Du sie aufgeben konntest, und ich fürchte, Du wirst es nur zu bald einsehen, was Du damit aufgegeben hast. Doch das ist schließlich Deine Sache. Meine Schwester schreibt mir aber, daß Du beabsichtigst, die Dame, um derentwillen der Bruch stattfand, Frau von Nérac, zu Deiner Gemahlin zu machen, und ist außer sich darüber. Ich habe ihr freilich zugleich mit meinen Abschiedszeilen die Beruhigung gesandt, daß es nicht so weit kommen wird.“

„Weßhalb nicht?“ fuhr Raoul auf. „Bin ich ein Kind, das sich noch gängeln und bevormunden läßt? Ich bin mündig, auch vor dem Gesetz; das scheint Ihr Alle zu vergessen, und wenn sich Alles dagegen setzt, Heloise wird mein; ich lasse sie mir nicht rauben!“

Es sprach nicht bloß Trotz aus diesen Worten; eine wilde Leidenschaftlichkeit lag in ihnen, und das fieberhaft Erregte und Verstörte des jungen Mannes trat dabei so deutlich hervor, daß auch Montigny es jetzt bemerkte. Er milderte unwillkürlich den Ton, und die Hand seines Neffen ergreifend, zog er ihn neben sich nieder.

„Vor allen Dingen, Raoul, versprich mir, ruhiger zu werden. Wenn Du eine bloße Andeutung schon mit solcher Heftigkeit aufnimmst, wie willst Du dann die volle Wahrheit ertragen? Hätte ich geahnt, wie tief Du verstrickt bist, ich hätte längst gesprochen. Mit der Kriegserklärung fällt allerdings ein Theil jener Rücksichten, die mir Schweigen auferlegten; dennoch fordere ich Dein Ehrenwort, daß das, was ich Dir jetzt mittheile, kein Dritter erfährt, auch Deine Mutter nicht.“

Die ernsten, ruhigen Worte, durch die ein Ton von Mitleid hindurchklang, verfehlten ihre Wirkung nicht; aber Raoul gab keine Antwort, und der Marquis fuhr fort:

„Ich habe Clermont schon vor Monaten gedroht, Dir die Augen zu öffnen, wenn er Dich nicht aus den Händen ließe, und er war vorsichtig genug, Dich zu bestimmen, Eure Beziehungen fortan geheim zu halten. Ich und Hortense, wir ließen uns Beide täuschen; aber ich kann und werde es nicht zulassen, daß der einzige Sohn meiner Schwester solchen Schlingen zum Opfer fällt. Du weißt nicht, wer und was dieser Clermont ist –“

„Onkel Leon,“ unterbrach ihn Raoul heftig, aber mit qualvoll gepreßter Stimme, „sprich nicht weiter, ich bitte Dich. Ich will nichts hören, nichts wissen – verschone mich!“

Montigny sah ihn befremdet und bestürzt an.

„Du willst nicht wissen? Du weißt also doch etwas, wie es scheint? Und hast dennoch –“

„Nein, nein, ich ahne nur, und auch das erst seit gestern. Ein Zufall – frage mich nicht!“

„Kannst Du es nicht ertragen, wenn man Dir die Binde von den Augen reißt?“ fragte Montigny ernst. „Gleichviel, es muß dennoch geschehen. Du kennst Clermont und seine Schwester nur als Privatpersonen, die ein Reiseleben führen, weil ihnen ihr Vermögen nicht erlaubt, ein Haus in Paris zu machen. Der Zweck ihres Aufenthaltes ist weniger harmlos. Sie sind hier in einer jener Missionen, die jede Regierung braucht und brauchen muß, zu denen sich aber kein Ehrenmann hergiebt. Man überläßt sie jenen dunklen Existenzen, denen jedes Mittel recht ist, um sich äußerlich wenigstens in der Gesellschaft zu behaupten. Daß es hier wirklich die Abkömmlinge eines alten edlen Geschlechtes sind, die so tief sanken, ändert nichts an dem ,Geschäfte’ selbst; es wird höchstens noch schmachvoller dadurch. Ich denke, Du hast mich jetzt verstanden.“

Raoul schien in der That verstanden zu haben, aber er machte eine stürmisch abwehrende Bewegung.

„Du sprichst von Henri – Du magst Recht haben; aber Heloise ist schuldlos; sie hat keinen Antheil an dem, was der Bruder that; sie wußte nichts davon. Sprich keine Verleumdung gegen sie aus – ich werde Dir niemals glauben!“

„So wirst Du den Thatsachen glauben müssen. Ich sage Dir und bürge Dir mit meinem Worte dafür, daß bei diesen ,Aufträgen‘ Frau von Nérac die Hauptrolle hatte, weil sie sich als Dame freier und unverdächtiger bewegen konnte. Ich kann Dir die Beweise liefern, die Summen nennen, die gezahlt worden sind –“

„Nein – nein!“ schrie Raoul auf. „Schweig’ um Gotteswillen! Das könnte mich zum Wahnsinn bringen!“

„Sie scheint Dich in der That halb wahnsinnig gemacht zu haben; sonst hättest Du ihr nicht eine Hertha geopfert,“ sagte Montigny bitter. „Und doch warst Du den Beiden nichts weiter als ein Werkzeug, ein Schlüssel, der ihnen verschlossene Thüren öffnen sollte. Durch Dich wollten sie sich bei dem General Eingang verschaffen, vielleicht auch Beziehungen im Ministerium anknüpfen. Darum drängte Dir Clermont seine Freundschaft auf; darum spielte seine Schwester einen Roman mit Dir, den Du leider ernst genommen hast, und Du gingst blind in die Falle. Nun, hoffentlich bist Du jetzt geheilt und denkst nicht mehr daran, sie zu Deiner Gemahlin zu machen, die – bezahlte Spionin!“

Raoul zuckte zusammen bei dem Worte, dann aber sprang er plötzlich auf und eilte nach der Thür. Montigny vertrat ihm den Weg.

„Wo willst Du hin?“

„Ihnen nach!“

„Thorheit!“ sagte der Marquis, ihn festhaltend. „Soll es vielleicht noch in letzter Stunde ein Unglück geben? Solche Dinge straft man mit Verachtung.“

Raoul gab keine Antwort, aber das leichenblasse Antlitz, das er jetzt zu seinem Oheim emporhob, trug einen Ausdruck, daß jener erschreckt zurücktrat.

„Was hast Du? Das ist nicht bloß der Schmerz verrathener Liebe; das ist ja eine förmliche Todesangst, so erkläre mir doch –“

„Ich kann nicht! Halte mich nicht auf!“ rief der junge Graf, sich gewaltsam losringend, und ohne irgend eine Erklärung, ohne ein Lebewohl an den Verwandten, den er doch zum letzten Male sah, stürzte er davon. Montigny blickte ihm mit tiefgefurchter Stirne nach.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 878. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_878.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2022)