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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

können, doch in Folge gewohnheitsmäßigen maßlosen Trinkens berauschender Getränke zu Zeiten sich selbst oder Anderen gefährlich wird oder sich und seine Geschäfte nicht mehr zu leiten vermag. Das niederländische Trunkgesetz von 1881 unterwirft solche, die sich öffentlich betrunken zeigen, erst einer Geldbuße, im Wiederholungsfalle der Haft und schließlich dem Zwangsaufenthalt im Arbeitshaus. Da dieses jedoch zur Heilung von Trinkern wenig geeignet ist, hat man eine besondere Trinkerheilanstalt errichtet, aus welchem Grunde im Sommer 1884 der Präsident des Volksbundes gegen den Mißbrauch starker Getränke, Abgeordneter Goeman Borgesius, und ein Arzt die Anstalten in Lintorf näher in Augenschein nahmen. Der Erstere hat sich über sie später sehr günstig ausgesprochen.

Von den Lintorfer Anstalten ist die ältere, Männern der unbemittelten Stände gewidmete Abtheilung eine Schöpfung der Wohlthätigkeit und bedarf eines bedeutenden Zuschusses, welcher ihr durch die Mutteranstalt (die Diakonen-Bildungsanstalt zu Duisburg) gesichert ist. Die seit ungefähr sechs Jahren bestehende neue Anstalt verpflegt die Trunksüchtigen in zwei Klassen für 100 bis 150 Mark monatlich. Ein unverheiratheter älterer Arzt sorgt für die zu Beginn oft erwünschte fachmäßige Hilfe und leistet den Pfleglingen dann weitere wichtige Dienste durch seinen erfahrenen Umgang auf Spaziergängen oder im Hause. Die Hausordnung hält vor allem auf Ordnung und Reinlichkeit, diese äußeren Stützen sittlicher Kraft; die Einführung regelrechter Arbeit ist dagegen bis jetzt noch nicht geglückt. Ohne Beschäftigung ist zwar wohl Keiner, aber was Manche treiben, darf man kaum eine Beschäftigung nennen. Die Einen füllen ihre Zeit mit der geistigen Arbeit ihres Berufsfaches aus; Andere hobeln und schnitzen Holz; noch Andere arbeiten im Garten. Dazu kommen geeignete Spiele wie Billard, Kegeln, Krocket, auch gemeinsame Aufführungen und Musik, der sich namentlich ein „sehr netter“ Gesangverein hingiebt.

Die Pfleglinge, erzählt uns Pastor Hirsch, leben sorglos wie die Kinder; sie führen kein Geld, denn was sie bedürfen, wird ihnen von Anstalts wegen angeschafft, und der Besitz von Taschengeld könnte im Anfang leicht auf eine heimliche Jagd nach dem Lieblingsgetränk führen; ihre überreizten Nerven können sich in der gesunden freien Luft und ländlichen Stille wieder völlig beruhigen. Die Meisten kommen in die Anstalt nicht ohne Angst und Mißtrauen, als wäre sie ein halbes Gefängniß. Liegen aber die ersten Tage des Katers, wie der eben so fröhliche als pflichttreue Pastor Hirsch sich ungezwungen ausdrückt, hinter ihnen, dann fühlen sie sich angenehm enttäuscht, Alles so ganz anders und soviel besser zu finden, als sie gefürchtet hatten. Sie sind nun recht glücklich, von dem ewigen unseligen Rausch abgekommen zu sein und ohne das denselben hervorbringende Gift schlafen, essen und arbeiten zu können. Allmählich tritt dann ihr eigentliches Wesen hervor, welches die beständige Umnebelung des Hirns unterdrückt hatte. Entweder gewinnen dann die alten Eigenschaften der Genußsucht und des Leichtsinns die Oberhand oder ein ernstes Trachten nach gründlicher innerer Besserung.

Von großen Erfolgen kann in Lintorf noch keine Rede sein, aber doch von Erfolgen. Von den 125 bisher entlassenen Pfleglingen bezeichnet der letzte Bericht 30 als bleibend geheilt. Größtentheils gehören diese Geheilten zu denjenigen 55 Pfleglingen, welche länger als ein halbes Jahr in der Anstalt zugebracht haben, so daß ein Aufenthalt von dieser Dauer die Aussicht auf völlige Heilung schon wie eins gegen eins oder auf die Hälfte aller Fälle stellt. Als die richtige, zur Heilung nothwendige Zeit betrachtet Pastor Hirsch im Einvernehmen mit erfahrenen Fachärzten durchschnittlich ein Jahr oder mehr. So lange sind aber nur 21 Pfleglinge überhaupt geblieben; 35 länger als dreiviertel Jahr, 55 länger als ein halbes Jahr, aber 35 nicht einmal ein Vierteljahr! Man kann sie ja eben nicht wider ihren Willen festhalten, wenn sie sich einbilden genesen zu sein und, bloß auf ihre augenblickliche Selbstempfindung gestützt, nach Hause wollen. Man darf sich unter diesen Umständen nicht über die geringe Zahl wirklicher voller Heilungen neben den bloßen Besserungen wundern, sondern muß den Muth und die Geduld von Männern anerkennen, welche trotzdem in ihrer Hingebung an das Wohl und Heil unglücklicher Alkoholsklaven ausharren. Aber die allmähliche Erhebung der Nation gegen diesen ihren bösen inneren Feind wird auch ihre redliche Mühe mit reichlicherem Lohne krönen. Jeder Entlassene zeugt für die Anstalt stumm und laut; Aerzte freuen sich, wenigstens auf eine solche Trinkerheilstätte hinweisen zu können, und mit der Zeit schwindet wohl auch das Vorurtheil gegen sie.

Ein ganz eigenartiges Unternehmen zur Bekämpfung der Trunksucht ist von einem Hamburger Pfarrer, Pastor Ninck, ins Leben gerufen worden. Ihn erbarmte des Säufer-Elends, dessen in der üppigen Weltstadt soviel ist, und mehr wohl noch der unglücklichen Angehörigen, denen ein täglich betrunken heimkehrender, gewaltthätiger Vater das Heim zur Hölle macht. Er bestimmte mit seinem Freunde, Freiherrn D. von Oertzen, darum den Landrath von Plüskow-Kowalz, auf dem ihm gehörenden Gute Sophienhof bei Tessin eine Schar solcher Männer unter einem tüchtigen und zuverlässigen Hausvater landwirthschaftlich zu beschäftigen. Das Gut liegt zwölf Stunden von der Eisenbahn in großer Abgeschiedenheit. Eine Viertelstunde von diesem entfernt befindet sich ein dazugehörender Hof: auf diesem haust der Hausvater Nagel mit seinen Pflegebefohlenen, deren indessen niemals über ein Dutzend sind. Sie müssen freiwillig eintreten und sich verpflichten, wenigstens ein Jahr lang zu bleiben. Diese wichtige, ja entscheidende Bedingung, welche man nur zu gern in Lintorf ebenfalls stellen würde, wenn die Anstalt dann eines für ihre bedeutenden Kosten hinlänglichen Besuches sicher wäre, läßt sich in Sophienhof durchführen, weil das Gut nicht nothwendig eines Dutzends solcher Arbeitskräfte bedarf. Wie dies in der älteren Abtheilung der Lintorfer Anstalt, dem dortigen Männer-Asyl, der Fall ist, so läßt auch das Männer[-]Asyl des Pastors Ninck in Sophienhof sich für die Erhaltung der Hauseltern, für Kleidung der Pfleglinge, Arzt und Arznei, endlich auch zur Ermöglichuug unentgeltlicher Aufnahme eines oder mehrerer ganz armer Trunksüchtigen thunlichst von Jedem 150 Mark jährlich zahlen. Unterkunft und Kost liefert Herr von Plüskow umsonst, nützt aber dafür die Arbeitskraft des Hausvaters und seiner Schar, die von allen übrigen Tagelöhnern abgesondert den ganzen Tag in Feld und Scheune tüchtig schaffen müssen. Nichts Alkoholisches kommt natürlich über ihre Lippen. Das ruft zunächst eine sehr unbehagliche Stimmung hervor; man sieht die Neueingetretenen häufig nach ihrer Nase fassen, der nun nicht mehr so viel Blut vom Gehirn her zuströmt, und von deren Vorhandensein sie sich daher immer erst überzeugen müssen. Sollte hiervon die Redensart Onkel Bräsig’s stammen, der doch auch etwas von einem Gewohnheitstrinker war: „Daß du die Nase ins Gesicht behältst!“?

Das mecklenburgische Trinker-Asyl nennt sich ausdrücklich ein christliches, und dem entspricht die Hausordnung. Morgens und Abends findet eine gemeinsame Hausandacht statt, bestehend in Gesang, Gebet, Vorlesung und Betrachtung eines Schlußabschnittes. Sonntags wird der Gottesdienst in der evangelischen Kirche besucht. Nachmittags folgt bei leidlichem Wetter ein gemeinsamer Spaziergang, an welchem theilnehmen muß, wer überhaupt auszugehen wünscht; „der übrige Theil des Sonntags ist der stillen Sammlung, nützlicher Lektüre und passender Unterhaltung gewidmet“. Auch alle sonstigen Ausgänge hängen von der Erlaubniß des Hausvaters ab, und Besucher müssen sich ihm zunächst vorstellen. Maßgebend für das innere Leben der kleinen Anstalt erscheint noch § 12 der Hausregeln: „Der Hausvater … begegnet allen Hausgenossen mit Liebe und Vertrauen. Von und unter den Hausgenossen ist der Geist brüderlicher Liebe und Eintracht zu pflegen. Aller sündliche Verkehr und Zerstreuung nach außen sind ausgeschlossen; leichtfertige Unterhaltungen, insbesondere auch über vergangene Verirrungen, werden nicht geduldet.“

Soweit könnte Pastor Hirsch in Lintorf mit seinen Entwöhnungsgästen auf keinen Fall gehen. Er deutet umgekehrt an, was sich psychologisch ja auch vollkommen erklärt, daß die Vorerlebnisse übler und trauriger Art den Hauptinhalt ihrer Gespräche ausmachen. Aber in Sophienhof werden eben nur geistig weniger rege, einer strengen und einfachen Zucht leichter zu unterwerfende Sklaven des Gifttranks ihre Genesung suchen.

Ueber die Erfolge der Anstalt, die seit einigen Jahren besteht, theilte Herr von Oertzen auf der diesjährigen Versammlung des deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistigen Getränks im Juni zu Hamburg mit, daß man die Hälfte der entlassenen Trunksüchtigen als geheilt ansehen dürfe.


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