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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Dämmerschein erfüllte. Der Mond leuchtete selbst durch den Wolkenschleier hell genug, um auf einige Entfernung hin die Gegenstände zu unterscheiden; plötzlich tauchte die dunkle Gestalt eines Mannes auf, der vom Eingange des Dorfes zu kommen schien und, kraftvoll gegen den Sturm ankämpfend, gradewegs auf das Pfarrhaus zuschritt. Michael’s scharfes Auge entdeckte ihn zuerst; er machte den Pfarrer darauf aufmerksam, der verwundert den Kopf schüttelte.

„In solchem Wetter? Da kann es sich nur um einen Kranken handeln, der das Sakrament verlangt; aber ich weiß augenblicklich von keinem einzigen Krankheitsfall im Dorfe. Der Mann kommt wirklich hierher; da werde ich ihm wohl öffnen müssen.“

Er ging in der That hinaus, um selbst zu öffnen, und gleich darauf hörte man draußen Wolfram’s Stimme.

„Ich bin’s, Hochwürden! Ich komm’ wie ein Gespenst um Mitternacht, aber es hilft nichts. Wenn Sie nicht wach gewesen wären, so hätte ich Sie herauspochen müssen.“

„Was giebt es denn? Was bringt Ihr?“ fragte Valentin besorgt, indem er mit dem späten Gast wieder in das Zimmer trat.

„Nichts Gutes, Hochwürden! Lassen Sie mich nur erst zu Athem kommen – der verwünschte Sturm – er hat mich fast umgerissen auf dem Wege! Ich komm’ wegen der jungen Gräfin –“

„Gräfin Steinrück? Wo ist sie?“ fiel Michael ihm heftig in das Wort.

„Ja, das weiß der Himmel! In das Pfarrhaus ist sie doch nicht zurückgekommen?“

„Um Gotteswillen, nein!“ rief Valentin erschrocken. -„Die Gräfin wollte ja nach dem Schlosse.“

„Ja, aber sie hat umkehren müssen. Dies verdammte Pferd scheute vor einem Wildwasser! Ich möchte der Kreatur, die das ganze Unglück angerichtet hat, den Hals dafür umdrehen. Und der Kutscher, anstatt die Zügel festzuhalten, fliegt vom Bock; nun liegt er da, mit einem zolltiefen Loch im Kopfe. Der Diener hat ihn mit Mühe und Noth zum Wirthshaus geschleppt, und die junge Gräfin ist verloren gegangen auf dem Rückwege. Kein Mensch weiß, wo sie ist – und das gerade in dieser Nacht, wo alle Teufel los sind!“

Er hielt inne, um Athem zu schöpfen; Michael war leichenblaß geworden. So unklar und verworren der Bericht auch klang: er sah doch, daß seine Unheilsahnung ihn nicht getäuscht hatte.

„Ist die Gräfin unverletzt geblieben? Wo hat der Unfall stattgefunden? Zu welcher Stunde? So antworten Sie doch!“

Er stürmte mit all diesen Fragen so leidenschaftlich auf den Förster ein, daß Valentin ihn trotz seiner Angst befremdet anblickte. Wolfram bemühte sich augenscheinlich, mehr im Zusammenhange zu erzählen, und es gelang ihm auch einigermaßen, aber sein Bericht lautete darum nicht tröstlicher.

„Zu Anfang ist es ganz gut gegangen,“ berichtete er. „Die Straße war im Mondlicht hell wie am Tage und sie kamen ziemlich schnell vorwärts. Da scheut die Bestie, das Pferd, vor einem Wildbach, der inzwischen losgebrochen ist und vom Felsen tobt; es setzt in blinder Angst seitwärts hinein in das Steingeröll, kommt dabei zu Fall und reißt im Sturze den ganzen Wagen mit sich.“

„Und die Gräfin ist wirklich nicht verletzt worden?“ Die Frage klang ebenso stürmisch wie die vorhergehenden.

„Nein, sie stand gleich wieder auf den Füßen, aber der Kutscher lag da und blutete und am Wagen war ein Rad gebrochen. Die Diener haben natürlich den Kopf verloren; solches Volk macht ja nur Dummheiten, wenn es einmal anders hergeht, als in seinem Schlosse. Die junge Gräfin scheint die einzig Vernünftige gewesen zu sein, und sie brachte mit ihren Befehlen denn auch Ordnung in die Geschichte. Mit dem zerbrochenen Wagen konnten sie nicht weiter; also blieb nichts übrig, als umzukehren. Der Kutscher, der nicht von der Stelle konnte, wurde in die Wagenkissen gesetzt und der eine Diener blieb bei ihm, während die Gräfin mit dem anderen sich auf den Rückweg nach Sankt Michael machte und versprach, sofort Hilfe zu schicken – seitdem hat man nichts wieder von ihr gesehen und gehört.“

„Um welche Stunde ist das gewesen?“ unterbrach ihn Michael.

„So etwa gegen neun Uhr.“

„Dann hätte sie um zehn Uhr hier sein müssen – und jetzt ist es eine Stunde nach Mitternacht!“

Er stieß die Worte mit einer solchen Todesangst hervor, daß der Pfarrer ihm wieder jenen halb fragenden, halb bestürzten Blick zusandte. Aber Michael hatte jetzt nur Augen und Ohren für den Bericht des Försters und drängte in bebender Ungeduld:

„Weiter, weiter!“

„Ja, weiter ist nicht viel zu sagen,“ erklärte Wolfram. „Die Beiden auf der Straße warteten zwei Stunden lang; als aber die Hilfe noch immer nicht kam und das Wetter immer drohender wurde, waren sie gescheit genug, auf eigene Hand aufzubrechen. Der Kutscher, der wieder etwas zu sich gekommen war, wurde auf das Pferd gesetzt, das der Andere am Zügel führte, und so langten sie denn endlich beim Rainwirth an, kamen aber nicht weiter, weil der Sturm gerade ausbrach; sie glaubten jedoch steif und fest, die Gräfin sei schon längst im Pfarrhause. Nun kam es freilich heraus, daß sie gar nicht ins Dorf zurückgekehrt war; sie hätte ja beim Wirthshaus vorbei gemußt, aber Niemand hat sie zurückkehren sehen. Der Diener jammert um seine junge Herrschaft und lamentirt wie ein altes Weib; aber er war nicht dazu zu bringen, in dem Sturm auch nur bis zum Pfarrhause zu gehen. Da hab’ ich es übernommen, denn wissen müssen Sie die Geschichte doch, Hochwürden. Was machen wir nun?“

„Da ist ein Unglück geschehen!“ rief der Pfarrer, der mit steigender Angst zugehört hatte. „Ich ahnte es ja, als diese unselige Bergfahrt angetreten wurde. Sie sind unterwegs irgendwo abgestürzt.“

„Ich glaube eher, daß sie sich verirrt haben,“ sagte Michael; aber seine Stimme bebte, trotz seines Bemühens, sich zu beherrschen. „Die beiden Zurückkehrenden haben keine einzige Spur der Vermißten gefunden?“

„Nein, nicht die-geringste,“ versetzte Wolfram mit Bestimmtheit.

„Dann ist auch kein Absturz erfolgt. Zwei Menschen mit zwei Pferden können auf der verhältnißmäßig sicheren Fahrstraße nicht so spurlos verschwinden – sie haben den Weg verfehlt.“

„Aber er ist ja gar nicht zu verfehlen,“ wandte der Pfarrer ein.

„Doch, Hochwürden, beim Almenbach, wo es aufwärts nach der Bergkapelle geht. Die Wege gleichen sich nur zu sehr; das Mondlicht täuscht, und wenn die Gräfin den Irrthum nicht rechtzeitig bemerkt hat, dann ist sie – in die Klüfte der Adlerwand gerathen!“

„Gott steh’ uns bei!“ rief der Pfarrer. „Das wäre ja fast so schlimm wie der Absturz!“

Michael biß die Zähne zusammen; er wußte, daß es keine Uebertreibung war; er kannte die Klüfte und Abgründe der Adlerwand noch von seiner Knabenzeit her.

„Es ist die einzig denkbare Möglichkeit,“ entgegnete er. „Jedenfalls ist keine Minute mehr zu verlieren; es sind schon Stunden darüber hingegangen. Wir müssen sofort hinaus!“

„Jetzt? In dieser Nacht?“ fragte Wolfram, den Hauptmann anstarrend, als glaube er, dieser sei nicht recht bei Sinnen, und der Pfarrer rief erschrocken:

„Michael, was fällt Dir ein? Du willst doch nicht etwa –?“

„Die Gräfin suchen! Gewiß, das ist doch selbstverständlich. Soll ich vielleicht ruhig hier im Hause bleiben, während sie draußen all den Schrecken der Sturmnacht preisgegeben ist?“

„Du sollst nur warten und nicht versuchen, das Unmögliche zu erzwingen; denn für den Augenblick ist das unmöglich. Du kennst ja unsere Berge und mußt es wissen, daß nichts zu unternehmen ist, so lange der Sturm mit solcher Wuth tobt. Sobald er nachläßt, sobald der Morgen graut, werden wir aufbieten, was Menschenkräfte nur vermögen. Jetzt hinauszugehen wäre mehr als Tollkühnheit, das wäre offenbarer Wahnsinn.“

„Wahnsinn oder nicht! Es muß versucht werden!“ brach Michael aus. „Glauben Sie, daß ich mein Leben achte, wenn es das ihrige gilt? Und müßte ich ihr folgen bis auf die Gipfel der Adlerwand und drohte dort zehnfacher Tod – ich entreiße sie der Gefahr oder gehe mit ihr unter!“

Valentin faltete entsetzt die Hände. Der jähe, verzweiflungsvolle Ausbruch verrieth ihm das lang behütete Geheimniß, das er freilich in den letzten Minuten geahnt hatte, und leise sagte er:

„Steht es so? Allmächtiger Gott!“

Michael achtete nicht darauf, er hatte sich wieder zu Wolfram gewandt und sagte hastig:

„Ich brauche Gefährten; wir müssen in verschiedenen Richtungen suchen – werden Sie mich begleiten?“

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