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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Vorlesung vor der besten Gesellschaft mit klassischer Ruhe den Ausspruch thun: wir mögen es nun zugeben oder nicht, in jedem von uns steckt ein Stück von einem Socialdemokraten. Ich möchte, daß dieser tapfere Mann, oder ein anderer, der, wie er, die nöthige Einsicht in unsere Verhältnisse hätte und dem es, wie ihm, an der Gabe der Darstellung nicht gebräche, uns, vielleicht in einem Dichtwerk oder wie immer, ein Bild unserer Gesellschaft vorführte, welches jenes Wort nach allen Richtungen illustrirte. Ich möchte fast sagen: nur nach der einen Richtung, der nach oben, in den höheren und höchsten Schichten der Gesellschaft. Denn wie es in den unteren und untersten aussieht, das wissen wir alle, oder können es doch aus tausend mehr oder weniger gelungenen Darstellungen unschwer erfahren, besser noch: aus dem Studium der Wirklichkeit, die sich ja wahrlich nicht versteckt, sondern sich traurig, und zur Zeit trostlos genug, überall offen um uns breitet. Aber da oben! bei den zehn- und hunderttausend Privilegirten der Geburt, des Standes, der Wissenschaft und Kunst, des ererbten und erworbenen Reichthums, bei den Fürsten und Herren, den Großwürdenträgern in Militär und Civil, bei den Männern des Katheders und der Kanzel, den Dichtern mit der Feder, dem Pinsel und dem Meißel, den Allmächtigen der Börse und des Hauptbuches laßt uns prüfen, ob ihr Denken mit ihrem Reden, ihr Herzschlag mit ihrem Thun stimmt. Und wenn, woran ich nicht zweifle, es unter ihnen gar viele giebt, die das Joch der Heuchelei, welches ihnen die ehernen Formen der Gesellschaft, der scheinbar unbesiegliche Zwang der Verhältnisse auferlegen, nicht abzuschütteln wagen, laßt sie den Muth ihrer wahren Gesinnung schöpfen aus dem Beispiel der wenigen unter ihnen – und es sind ihrer vielleicht so wenige nicht – die sich unter schweren Kämpfen zu diesem Muthe durchgerungen und die Welt der Lüge überwunden haben und vor Kaiser und Reichstag mit dem Mönche von Wittenberg sprechen: ‚Hier stehe ich; ich kann nicht anders; Gott helfe mir!‘ Mögen sie dann immer da drinnen im Saal, die Höchst-, Hoch- und Hochwohlgebornen, ihre Stirnen in Falten ziehen und auf der Gasse das leichtbewegliche Volk die Köpfe zusammenstecken und munkeln und raunen: was will das werden? Wir trauern um den Einen unter uns, der auf die Frage keine andere Antwort fand, als die trostlose: nichts will es werden; und ein Leben von sich warf, das fürder keinen Werth und keine Würde für ihn hatte. Wir Anderen aber, wir stehen zum Leben, in der festen Ueberzeugung, daß, was da werden will, werden wird; und ein Hohes und Herrliches werden wird, und eine neue glorreiche Phase der ewig strebenden Menschheit, so sie der Zeichen achtet, die da geschehen mit erschreckender Deutlichkeit in ihren Tiefen und wahrlich auch klar genug auf ihren Höhen für den, der Augen hat, um zu sehen, und Ohren, um zu hören.“

Der Herrliche schwieg; die Augen der Lieben um ihn erglänzten im heiligen Feuer des Muthes und der Zuversicht, die er in ihre Seelen gegossen hatte; mir aber erzitterte das Herz in der Brust. Er hatte, während er die Aufgabe zeichnete, deren Lösung er von einem Dichter der Zukunft heischte, von Keinem sonst bemerkt, seine Hand auf meine Hand gelegt.

Und ich hatte ihn wohl verstanden und mir geschworen, ich wolle, wenn die Himmlischen mir gnädig seien, an diese Arbeit gehen, nach meiner besten Einsicht, mit meinen besten Kräften, mich im Voraus gern bescheidend, so es mir auch nur gelänge, ein paar Bausteine herbeizuschaffen für den Meister, der nach mir kommen wird.




Hinter den Koulissen des Berliner Opernhauses.


Aber pünktlich, meine Herren, pünktlich um sechs Uhr melden Sie sich morgen Abend beim Kastellan; er wird Sie dann hinaufweisen. Drei Treppen links ist die Garderobe; Sie finden Alles dort, was Sie gebrauchen. Sie sind natürlich ‚Volk‘, einfache Tunika, Beinkleider, Schuhe, na, es wird sich schon Alles machen. Herr S., die Herren hier melden sich also morgen bei Ihnen. Sie sorgen für sie! Adieu, meine Herren – wollen Sie etwa noch der Probe beiwohnen? Nicht, na dann auf morgen, aber pünktlich um sechs Uhr!“

So lautete die kurze Ansprache, welche uns jungen Leuten der in Dienst und Eifer ergraute, stets unermüdliche und stets freundliche Statisten-Inspicient des Opernhauses gehalten, allerdings nicht ohne vielfache Störungen; denn jeden Augenblick stürmten auf ihn die verschiedensten Anfragen der verschiedensten Menschen ein, und Jedem gab er eine präcise, trotz der Kürze erschöpfende Antwort. So waren wir denn entlassen, wir „königlich preußische Statisten“! Einen flüchtigen Blick warfen wir noch auf den mächtigen, trotz des hellen Vormittags durch hundert und aber hundert Gasflammen erleuchteten Bühnenraum, auf welchem gerade die Generalprobe zu der letzten neuen Oper in vollem Gange war, stießen dann beim Fortgehen den eifrig dahineilenden, noch jugendlich-lebhaften Direktor der Oper fast um, stolperten über einige Koulissen-„Beine“, klopften den im Vorraume stehenden, für die heroische Oper gebrauchten Pferden des königlichen Marstalls kollegialisch-vertraulich den Rücken und verließen stolz im Gefühl der neuen Würde die kleine Pforte des Musentempels, wohl bemerkend, daß „uns Schauspielern“ einige halbwüchsige Straßenjungen mit neidischen Blicken nachsahen.

Die Frühlingssonne beschien noch warm und klar den Opernhausplatz, auf dem Kinder und Spatzen um die Wette lärmten, als wir uns den nächsten Abend Punkt sechs Uhr wiederum an der für so Viele mit geheimnißvollem Zauber umsponnenen schmalen Pforte einfanden. Für uns war ja dieser Zauber gebrochen; wir gehörten für heute zu den Berufenen – wenn auch nicht, wie wir uns trotz aller Künstlereitelkeit nicht verhehlten, zu den „Gerufenen“ – uns scholl nicht das energische „Zurück!“ des Portiers entgegen, der an seinem Glasguckfenster saß und uns, als wir uns bei ihm zum spesen- und steuerfreien Amte meldeten, lakonisch zurief: „Drei Treppen links!“

Die Bühne, deren Rücksaum wir passirten, lag noch in mystisches Dunkel gehüllt: wenige Flämmchen verbreiteten einen schwachen Schein, welcher die Schatten einiger verfrühter Ritter und Mönche in gewaltigen dunklen Umrissen an die Koulissenwände zeichnete. Desto heller beleuchtet waren die in den unteren Räumlichkeiten gelegenen Garderoben der Solokräfte, und da bereits durch eine Thürspalte die in ein blaues Sammetwams gehüllte Figur des Herrn Betz sichtbar ward, eilten auch wir, um – wir drückten uns bereits ganz theatralisch aus – „in unser Kostüm zu schlüpfen!“ Wahrlich, wir sollten es gleich am Anfang unserer neuen Karriere merken, daß der Pfad zum Bühnenruhme schwer zu erklimmen ist. Drei steile, ausgetretene Treppen ging es empor; vorbei an mehreren nach rechts und links abzweigenden Gängen mit den Ueberschriften „Damen-Garderoben“, aus welchen wir das lustige Kichern und Plaudern fröhlicher Mädchenstimmen vernahmen, bis uns endlich eine brunnentiefe Baßstimme entgegenscholl: „Aha, neues ‚Volk‘, hier herein! – Da, in der Ecke, können Sie sich ausziehen! Hier sind Ihre Kostüme! Die Schuhe holen Sie sich nebenan!“

Das war kurz und bündig, und im selben Augenblick hatte auch bereits Jeder von uns ein Kleiderpacket im Arm, bestehend aus Rock, Trikots und Gürtel, und wir bezogen unser Quartier dicht am mächtigen Kachelofen, der für diesen Raum gewiß seinen Beruf verfehlt hatte; denn die Gasflammen sorgten wohl auch im strengsten Winter allein für die allen Künstlern angemessene hohe Temperatur. Flimmernd und flirrend flackerten die unruhigen Flämmchen unter der niederen Decke und beleuchteten mit zitternden Lichtern die Wände, an denen sich die reichhaltigsten Kleiderlager des gesammten Mühlendammes ein gemüthliches Rendezvous gegeben zu haben schienen. Lieber Himmel, was war hier nicht Alles aufgespeichert! Die wahre Kostümchronik der gesammten Geschichte vom grauen Heidenthume an bis zur letzten Razzia im Thiergarten, und scheinbar Alles in unentwirrbarem Knäuel durch einander, aber nur scheinbar; denn mit sicherem Blicke griffen die Garderobiers in die Rock- und Hosenknäuel hinein und theilten ihre Gaben für die „Herren Statisten“ aus. Von diesen war bereits eine stattliche Anzahl vorhanden, welche sich aber noch immer vergrößerte und in beständiger Bewegung war: Jedem sollte beim Anziehen geholfen werden, Jeder wollte sich vor den Spiegel drängen, Jeder noch immer „schöner“ werden, und das rief und fragte und suchte und probirte durch einander, daß man nur stets von Neuem die Geduld und Ruhe der Garderobiers bewundern mußte. Es war eine buntgemischte Gesellschaft hier oben, schwer im Einzelnen zu definiren, im Ganzen jedoch vollständig demokratisch, denn mit den an den Nagel gehängten Civilkleidern wurden auch zugleich die Standesunterschiede an denselben Riegel gehängt. Dort der schlanke Student, mit dem sorgsam gescheitelten Haare und dem aufgewirbelten blonden Schnurrbarte, unterhielt sich gemächlich mit seinem Nachbar, der vielleicht den Tag über muthig das Rasirmesser geschwungen hatte und jetzt am Abend dem „dunklen Drang in seiner Brust“ Folge leistete, und unser Nachbar, von unseren Begleitern als Graf D. erkannt und begrüßt, plauderte beim Anziehen vertraulich mit seinem Vis-à-vis, einem ehrbaren Tischlergesellen, der erstens die Kunst liebte und zweitens auch die 40 Pfennig Statistengeld. Selbst an Stammgästen hier oben fehlte es nicht; sie waren mit den Garderobiers befreundet, kamen bequem angeschlendert, suchten sich ihre Kostüme selbst aus und nahmen beim Ankleiden keinerlei fremde Hilfe in Anspruch. In dieser ihrer Stellung konnten sie sich denn auch mancherlei prophetische Aussprüche erlauben: „’s wird heut’ ein volles Haus!“ – „Die Partie ist für die Beeth wie geschrieben!“ – „Fricke wird famos sein!“ – [„]Passen Sie auf, die kleine Ghilany singt ihr Röllchen sehr hübsch!“ – „Der Chor im ersten Akt wirkt ausgezeichnet!“ – „Nein, mir gefällt das Spinnerlied im zweiten am besten!“ – „Aber der dritte Akt ist viel zu lang!“

So schwirrten die Stimmen der Habitués durch einander, und einer der letzteren erzählte uns, daß er seit drei Jahren Abend für Abend zu seinem Vergnügen hier mitwirke. Eine seltsame Begeisterung von ihm! Wir waren froh, als wir endlich fertig waren, oder es wenigstens zu sein glaubten; gerade als wir aber den heißen Raum verlassen wollten, musterte uns einer der Garderobiers. „In dem Zustand wollen Sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 701. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_701.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2022)