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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Marter: ich vernahm zuletzt jedes Aufschlagen der Räder bei dem Ueberrollen von einem Schienenstück zum anderen und fing an zu zählen in die Tausende während bereits der Abend hereinbrach und der Regen, welcher schon bei meiner Abfahrt am Mittag gedroht, erst leiser, dann immer heftiger gegen die Scheiben pochte, in deren engem Rahmen die so schon traurige Gegend vollends trostlos erschien. Ich verwünschte meine Bitte an den Inspektor, mir, wenn es anging, ein Koupe zu verschaffen, in welchem ich allein bleiben könnte, und den Eifer der Bediensteten, die von Station zu Station dem erhaltenen Auftrage willige Folge leisteten, ja Sorge getragen hatten, daß ihrem Schutzbefohlenen auf der anderen Abtheilung der Bahn dieselbe Vergünstigung zu Theil werde.

Wieder eine Station – Gott sei Dank, die letzte! Der Schaffner hat sich das Billett erbeten und die Thür wieder geschlossen. Ich stehe am entgegengesetzten Fenster und starre in das Dunkel. Die Thür wird abermals geöffnet; es scheint, daß der Schaffner Jemand den Eintritt verwehren, der oder die Betreffende – es muß eine Dame sein – sich denselben erzwingen will. Mögen sie es unter sich ausmachen! Sie hat offenbar ihren Willen durchgesetzt, die Thür wird mit heftiger Hand wieder ins Schloß geschlagen, hinter mir das Rauschen von Frauengewändern. Meine sieben Sachen sind durch das ganze Koupe zerstreut; es ist Wohl schicklich, der Dame Platz zu schaffen. Ich wende mich und stehe der schlanken, hochgewachsenen gegenüber, die jetzt den schwarzen Schleier zurückschlägt und die Arme ausbreitet.

Ein Jubelschrei bricht aus meiner Kehle, und ich halte sie in meinen Armen, an meiner Brust, mein geliebtes, hochherziges, tapferes Mädchen.

„Der Vater ist seit dem Mittag wieder bei uns, ich habe ihn aus dem Gefängnisse abgeholt. Dann kam die Depesche der Mama, daß Ulrich todt sei und Du die Rückfahrt allein machen würdest. Allein mit Deinem armen zerrissenen Herzen! Wie mochte die Mama das zugeben! Mich litt es nicht zu Hause; ich mußte Dir entgegen; ich wußte, daß Du Dich nach mir sehntest. Ich konnte nur bis hierher kommen, wo ich zwei Stunden gewartet habe. Aber es war noch immer besser als nichts. Und Du bist mit mir zufrieden und hast mich noch lieb, nachdem Dir Ulrich gestorben ist? Nun erst recht lieb, doppelt, dreifach lieb; ich muß ihn Dir ja zu ersetzen suchen! Und ich werde es! Nicht wahr, Geliebter, ich werde es? Du vertraust Deiner Ellinor? Du glaubst an Deine Ellinor? und Du liebst sie, wie sie Dich?“

O des Glücks! o der Wonne!

So möchte der Gemarterte empfinden, der den Qualen erlegen ist, und dessen unsterbliche Seele von Engelshänden emporund hinaufgetragen wird zu den himmlischen Gefilden.

14.

Zwei Stunden später sah das Wohnzimmer des Onkels eine kleine Gesellschaft beisammen. Adele und Pahlen waren soeben gekommen. Die Gefangenschaft des Letzteren hatte etwas länger gedauert als die des Onkels, in Folge eines Meinungsaustausches zwischen der russischen Gesandtschaft und der diesseitigen Behörde, welcher damit endete, daß jene erklärte, an den weiteren Schicksalen des Grafen keinerlei Interesse zu haben, und dieser überlasse, ihre Maßnahmen bezüglich desselben nach eigenem Ermessen zu treffen. Das Ermessen hatte dann in seiner sofortigen Ausweisung bestanden. Mit Mühe hatte er, seine Angelegenheiten zu ordnen, Ausstand bis morgen früh erhalten, wo er dann mit dem ersten Zuge Berlin verlassen sollte, um sich vorläufig in die Schweiz zu begeben.

„Bis an die Grenze mit einer Begleitung,“ fügte er lächelnd hinzu, „die nicht ganz so unterhaltend ist wie die Deine, liebe Adele, aber so sicher über mich wachen wird, wie Du es nur immer könntest.“

Davon wollte Adele nichts wissen; sie traue nach dieser Seite Niemand als sich selbst. Ihre paar Sachen seien längst gepackt; die Sorge für die Kinder werde bis zur Rückkehr der Mama Ellinor übernehmen. Es sei Alles zwischen ihnen abgemacht.

Ellinor bestätigte es. Sie habe das Bedürfniß, zu zeigen, daß auch sie sich nützlich machen könne, wie die anderen Damen, von denen sie eigentlich noch immer wie ein halbes Kind behandelt werde. Ueberhaupt nehme Niemand sie für voll mit Ausnahme des Einen, an dessen guter Meinung ihr freilich Alles gelegen sei.

Sie hatte sich dabei ihrem Vater in die Arme geworfen, der sie zärtlich an sich drückte.

Wir wollten uns eben zu dem bescheidenen Abendbrot setzen, als Professor von Hunnius gemeldet wurde. Der eifrige Mann kam, nach seinem Lieblingsworte, „wie Nikodemus in der Nacht“; aber er hätte nicht schlafen können, ohne vorher den Opfern polizeilicher Willkürherrschaft zu dem glücklichen Entrinnen aus der Löwengrube herzlichen Glückwunsch zu bieten.

Der wackere Herr hatte durch mich erst unlängst die Bekanntschaft des Obersten gemacht und sofort, wie das ja auch nicht anders sein konnte, eine herzliche Neigung zu dem herrlichen Mann gefaßt. Als dann bei der letzten tragischen Wendung, welche das Schicksal desselben nehmen zu wollen schien, auch sonst wohlgesinnte Blätter ihn fallen ließen und sich feierlich vor jeder Gemeinschaft mit einer „maß- und vaterlandslosen Demagogie“ verwahrten, hatte er fest zu ihm gestanden und in seiner Zeitung gesagt, man wolle doch erst einmal abwarten, ob es sich nicht wieder einmal um „ein Bubenstück“ handle, „ersonnen, einen ehrlichen Mann zu verderben“. So waren wir Alle ihm zu Dank verpflichtet; aber auch sonst war uns seine Gesellschaft willkommen. All das Traurige und Schreckliche, was uns in den letzten Wochen betroffen – jetzt wieder der Tod Ulrich’s, die bevorstehende Trennung von Adele und Pahlen auf vorläufig unabsehbare Zeit – es lastete auf uns schwerer, als wir uns in dieser Abschiedsstunde eingestehen mochten, in der wir uns so gern, wenn nicht frohe, so doch gefaßte, hoffnungsgetroste Mienen gezeigt hätten. Uns diesen Alb von den Seelen zu wälzen, dazu war der streitbare, sanguinische, immer in der Zukunft lebende Professor der rechte Mann.

Nach der ersten Begrüßung zog er mich in die Ecke, um mir verschiedenes Neues mitzutheilen, was mich interessiren würde. Zuerst aus einer Zeitung, die er mitgebracht hatte. Der Artikel lautete: „Endlich wieder unser! Denn man wird sich erinnern, daß er sich die ersten Sporen auf unserer Bühne geholt hat, er, von dem wir damals schon behaupteten, daß in ihm ein Künstler allerersten Ranges stecke: Joseph Lamarque! Darüber ist seit heute Abend – wir schreiben diese Zeilen nach der Vorstellung, uns für morgen eine ausführlichere Besprechung vorbehaltend – nur eine Stimme. Vielleicht nicht ebenso über das Stück, in welchem der große Meister – man darf wohl sagen: die Kühnheit hatte, bei uns zu debütiren, nachdem dasselbe, wie man weiß, in Berlin einen so durchschlagenden Mißerfolg erlebt. Aber sagen wir es frei heraus: wir beneiden die hauptstädtische Kritik nicht um ihren Scharfsinn und bedauern ein Publikum, das sich von einer solchen Kritik ins Schlepptau nehmen lassen konnte. Das Stück hat seine Mangel – und wir werden dieselben morgen nicht bemänteln – aber wir behaupten und werden es beweisen, daß eine Tragödie wie der ,Thomas Münzer’, welche nicht bloß dem Darsteller der Titelrolle, sondern fast allen Betheiligten solche Gelegenheit bietet, ihre beste Kunst zu entfalten, kein Meisterwerk zu sein braucht, aber unmöglich invita Minerva geschrieben sein kann.“ –

„Was sagen Sie?“ krähte der kleine Mann leise. „Er hält’s durch, glauben Sie mir! ich meine, Ihr Stück, an dessen endlichem Erfolge ich nie gezweifelt habe. Erinnern Sie sich? auf Ihrem Giebelstübchen? – Was habe ich da gesagt? Wahrlich, Ihr alter Lehrer war Ihr erster Prophet. Freilich, Jettchen Israel – guter Gott, wie würde sich das liebe Kind gefreut haben, hätte sie das noch erlebt! A propos Israel – ich meine Emil. Wissen Sie, daß er entschlossen ist, in unsere gute, dumme, alte Stadt zurückzukehren, mit der Mutter natürlich und ohne seine Lea selbstverständlich, die sich von ihm scheiden lassen und als Missis Alfred Simmen, ein Stern ersten Ranges, durch den Londoner Nebel glänzen wird? Habeat sibi! – Uebrigens findet jetzt eine vollständige Aus-, vielmehr Rückwanderung statt nach unserem Krähwinkel – es könnte wirklich so heißen – erinnern Sie sich der schwarzen Schwärme um den Nikolaithurm ? – Auch die Hopps! Der Alte ist todt – vorgestern in der Charite – Delirium – es ging sehr schnell – man darf wohl sagen: Gott sei Dank! – um der Familie willen, die jetzt an dem braven Brinkmann, der treuen Seele, erst die rechte Stütze haben wird. Auch Christine wird bei der Karavane sein. Sie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 699. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_699.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)