Seite:Die Gartenlaube (1886) 693.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Was will das werden?

Roman von Friedrich Spielhagen.
(Schluß.)

Theure Freundin!“ lautete der unvollständige Brief Maria’s, welchen mir meine Mutter soeben am Bahnhof übergeben hatte. „Ich schreibe zwei Stunden nach meiner Ankunft hier in aller Eile, damit Ihr morgen in X. die versprochene Nachricht erhaltet. Auch muß ich, schreibend, mir die Qual der Ungewißheit zu erleichtern suchen, zu der ich verurtheilt bin. Ich habe ihn noch nicht gesehen. Gerade, als ich ankam, sollte zu einem letzten entscheidenden Versuch geschritten werden, die Kugel zu finden.

Die Operation hat eine Stunde gedauert.

Sie haben die Kugel gefunden, aber seine Schwäche ist zu groß; ich darf nicht zu ihm – wohl nicht vor morgen früh, wenn er es überlebt – noch ist nicht alle Hoffnung verloren – im anderen Falle will man mich rufen – man hat es mir versprochen. Eben ging sein Freund, der junge Assistenzarzt, von mir. Er war bei der Operation und hat mir auch sonst Alles erzählt, wie sie hierher gekommen sind. Ihr werdet es wissen wollen. Ich will es niederzuschreiben versuchen.

Das Duell hat in der Nähe von Berlin, in E … stattfinden sollen. Aber sie sind gestört worden – ein Gendarm, glaube ich, der Verdacht geschöpft und sie nicht aus den Augen gelassen hat. Sie sind ein paar Stationen weiter gefahren; darüber ist die Nacht hereingebrochen. In der Nacht ist einer der beiden Zeugen – Ulrich’s – telegraphisch an das Krankenbett seiner Mutter gerufen worden; auch der Arzt, der sie begleitet, hat zurückgemußt.

Man hat beschlossen, weiter zu fahren, und dann gleich bis hierher, wo Ulrich alte Freunde hatte, und es auch an ärztlichem Beistande nicht fehlen würde. Der Andere ist es zufrieden gewesen; es scheint, die Entfernung von Berlin hat auch sonst in seine Pläne gepaßt. An einen schlimmen Ausgang für sich selbst scheint der Mann nicht gedacht zu haben, während Ulrich voller Unruhe gewesen ist und gegen seine Gewohnheit düster und in sich gekehrt. Doktor Born – eben der junge Arzt – sagt freilich, er habe solche Anfälle von Schwermuth auch schon als Student gehabt; er sei bei aller oft wilden Lustigkeit eigentlich immer unzufrieden mit sich selbst gewesen und voll Bitterkeit, so oft er auf seine Familienverhältnisse zu sprechen gekommen ist. Jetzt hat er wiederholt von mir gesprochen, aber immer als von einer Verstorbenen; erst aus dem Telegramm an mich hat Doktor Born zu seinem Erstaunen erfahren, daß ich noch lebe. Er hat es mir nicht ausdrücklich gesagt, aber ich habe es aus seinen Worten herausgehört: Ulrich ist mit sich selbst aufs Tiefste zerfallen gewesen und ist in das Duell gegangen, wie Jemand, der aus einem Labyrinth einen Ausweg sucht.

Es hat auch hier noch ein Paar Tage gewährt – ich weiß nicht recht weßhalb – bis das Duell zu Stande kam. Sie haben zu gleicher Zeit geschossen; Doktor Born sagt: Ulrich absichtlich vorbei, während der Andere – nun ja, er war in seinem Recht, wenn man bei dieser mittelalterlichen Verruchtheit von einem Recht sprechen kann – und doch! es ist gräßlich – es schreit zum Himmel! Ein Leben, wie dies, hingeopfert – wofür!

Ich schaudere, zu denken, daß Ulrich, wäre ich nicht in sein Leben getreten – aber ich darf das nicht denken: es ist nicht die Wahrheit. Wenn man sich denn einmal zu diesem Fetischdienst bekennt, wie er es gethan, er, der mindestens ein halbes Dutzend Duelle gehabt hat, sagt Doktor Born, bei denen sein Leben nicht weniger auf dem Spiele stand – nein! ich brauche mich nicht anzuklagen, wenn er sterben sollte. Und bleibt er am Leben – was würde ich ihm sein! Wenn man nur ein Herz hätte! Mein Herz – könnte ich ihn damit retten, erhalten – ich müßt’ es ihm geben; ich würd’ es ihm geben – er hat es ja, hat es immer gehabt – mein Herz! Ich gehöre nicht zu den Frauen, die nur mit ihrem Herzen leben.

Wie die Minuten schleichen! Eine halbe Stunde ist erst vergangen. Der Brief muß fort. Sie sehen, liebste Freundin, es ist nicht meine Schuld, wenn ich Sie in dieser Ungewißheit –“

Es war das letzte Wort auf der vierten Seite des Bogens.

Was hatte auf der folgenden gestanden?




11.

Bereits seit einer halben Stunde rollten wir in der Hofequipage, welche meine Mutter nicht ohne ein inneres Widerstreben schließlich angenommen hatte, auf der glatten Straße nach Schloß Bellevue.

Es war ein wundervoller Tag. Der Frühling hatte während der letzten Woche sein buntes Panier siegreich entfaltet, hier, wo in dem von bewaldeten Bergen umschlossenen Thale Alles so gern seiner milden Herrschaft huldigte. Die Hecken an den Wegseiten waren zubelaubt, die Riesenblätterknospen der Kastanien wollten sich bereits öffnen; auf den Feldern nickte fröhlich die junge grüne Saat, über der aus dem blauen, nur mit einzelnen weißen Wölkchen betupften Himmel unsichtbare Lerchen sangen. Zwischen den im Sonnenlicht wie Bronze glänzenden Stämmen des Buchenwaldes, dem wir entgegenfuhren, schimmerte unter den noch braunen Kronen das Unterholz im lichten Grün wie flatternde Mädchenkleider.

Ein wundervoller Tag – einer jener Tage, an welchen es dem Menschen – dem jungen zumal – so schwer wird, durch all den Glanz und Schimmer in die dunklen Tiefen zu blicken, aus denen das Leben steigt, in die es wieder versinken wird. Die dunklen Tiefen, in die ich eben noch hatte schauen müssen, als ich den Brief Maria’s las, den ich zu mir gesteckt hatte.

„Du hast mich in Deiner zarten Weise nicht fragen wollen,“ begann meine Mutter, „was mich denn eigentlich zu diesem Besuch veranlaßt hat. Möchtest Du es nicht wissen?“

„Aber, Mutter,“ erwiderte ich, „was kann das Anderes sein, als der so begreifliche Wunsch des Herzogs, Dich wenigstens noch einmal zu sehen: ein Wunsch, den auszusprechen er jetzt den Muth hatte, nachdem er für unsere lieben Gefangenen, die ja in diesem Augenblicke schon auf freien Füßen sind, mit solchem Eifer, mit so rückhaltloser Großmuth eingetreten ist? Ein Wunsch, den zu gewähren Du jetzt nicht umhin konntest, da es die einzige Form war, in welcher er unsern Dank entgegennehmen wollte? Das ist ja Alles so klar. Es bedarf keines Kommentars, wenigstens nicht für mich.“

„Und Du findest keinerlei Widersprüche in dem Text?“

„Wie meinst Du das? Ich darf es jetzt wvhl sagen: es hat mich ein wenig gekränkt, daß Du in dieser ganzen Angelegenheit meiner Mitwirkung so völlig entrathen mochtest.“

„Nicht so völlig,“ sagte meine Mutter. „Denn das Beste, die Hauptsache, auf die eigentlich Alles ankam, verdanken wir doch Dir: die Sicherheit, mit der Du die Vermuthung aussprachst, daß Weißfisch das Aktenstück gestohlen habe. Stand dies einmal fest, so ergab sich der Plan, den ich darauf hin entwarf und den ich mit so viel Glück bis zu Ende verfolgt habe, von selbst. Wir haben uns, wie Du Dich erinnerst, den Kopf zerbrochen, was den Menschen zu dem Diebstahl bewogen haben könnte. Das Räthsel wird einfach durch die Thatsache gelöst, daß er, ohne jemals aufgehört zu haben, ein Agent des Herzogs zu sein, zugleich ein viel beschäftigter und gut bezahlter Spion unsrer Polizei gewesen ist.“

Ich fühlte, daß ich bei dieser Enthüllung, die meinem Mangel an Menschenkenntniß ein so niederdrückendes Zeugniß ausstellte, ein klägliches Gesicht machte. Aber die gütige Mutter schien es nicht zu bemerken, sondern fuhr ruhig fort:

„Du begreifst, wie bequem er es in Folge dessen hatte, Dir gegenüber zuerst den Bettler, dann den uneigennützigen Diener zu spielen. Für ihn nun fielen seine beiden Aufgaben: die öffentliche und die private, gewissermaßen zusammen von dem Augenblicke an, als Du zu dem Oberst gezogen warst. Ueberwachte

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 693. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_693.jpg&oldid=- (Version vom 18.2.2022)