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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

blaue Packet mit dem „Thomas Münzer“ – ihn, der sich selbst mir gegenüber gerühmt hatte, daß es kein Schloß gebe, welches er nicht mit einem gebogenen Nagel öffnen könnte – und er war über eine halbe Stunde allein in der Bibliothek gewesen!

Es war ja nur ein Verdacht, aber er drängte sich mir mit solcher Gewalt auf – ich konnte nicht damit zurückhalten. Der Oberst sah in der Vermuthung kaum einen Schatten von Möglichkeit, anders der Graf und Adalbert. Sie hielten dafür, daß ein Mensch wie Weißfisch, wenn er in einem Schranke, in welchem er vielleicht kostbare Orden und Geld vermuthet, offenbar wichtige Papiere fände, auch mit diesen vorlieb nehme, um sie theuer an den Eigenthümer zurück oder theurer an die Feinde desselben weiter zu verkaufen.

„Das ist bei uns schon Dutzende von Malen vorgekommen,“ sagte der Graf, „und aus solchen Papieren manchem ehrlichen Kerl der solideste Strick gedreht worden.“

„Bei mir ist auch ohne das so viel hochverrätherisches Material aufgeschichtet,“ sagte Adalbert, „daß ich, als Staatsanwalt, fünfzehn Jahre Zuchthaus mindestens herausdestilliren würde.“

„Sie gehen in der That mit Ihren Papieren strafbar unvorsichtig um,“ sagte Pahlen.

In diesem Augenblicke wurde an der Flurglocke gezogen.

„Die Damen!“ riefen der Oberst und Pahlen. Ich eilte zu öffnen, obgleich ich mich wunderte, daß ich auf der stillen Straße keinen Wagen gehört, und der Ton der Glocke anders geklungen hatte, als wenn sie von Ellinor oder Adele gezogen wurde. Die Lampe, mit welcher sie sich hatten hinaufleuchten sollen, mußte ihnen ausgegangen sein; es war völlig dunkel auf dem Treppenflur, zu dem ich die Thür mit einem: „Schönsten guten Abend!“ aufriß.

Aber ich taumelte zurück, als anstatt der Erwarteten ein Mann so rasch hereintrat, daß er fast an mich angerannt wäre, und ihm nach sofort sieben oder acht andere Männer drängten, ebenfalls sehr rasch und, wodurch die sonderbare Situation doppelt unheimlich wurde, lautlos, so gut wie lautlos. Der Wohnungsflur ward von ihnen erfüllt, bevor ich noch ein Wort hatte vorbringen können. Je ein Mann war vor die Thüren der drei Zimmer getreten, welche außer der Bibliothek mit dem Flure in Verbindung standen, während zwei, als kännten sie die Wohnung längst, hinter einer Glasthür verschwanden, durch die man über einen längeren Flur zur Küche und zur Hinterthür gelangte. Zugleich war das Licht von ein paar Laternen aufgeflammt, welche die Männer unter ihren Mänteln verborgen gehalten haben mußten; ein Herr trat dicht vor mich und sagte, den Hut lüftend, in leisem, höflichem, aber dringendem Tone: „Ich bin der Staatsanwalt von“ – ich konnte den Namen nicht verstehen – „bitte, führen Sie mich zu dem Zimmer des Herrn Obersten! Das heißt –“

Er kam nicht weiter, denn in diesem Augenblicke öffnete der Oberst, der sich gewundert haben mochte, wo die Damen und ich so lange blieben, die Thür zur Bibliothek. Der Staatsanwalt trat sofort auf ihn zu und ihm, der unwillkürlich oder, um die Freunde zu warnen, ein Paar Schritte zurückwich, nach in das Zimmer, wohin ich ihm folgte, mit mir zwei der Männer, die an der Thür stehen blieben.

Pahlen und Adalbert waren von ihren Sitzen aufgesprungen; Pahlen stand uns zunächst und vor dem Tisch, Adalbert hinter demselben und etwas zurück. Der Staatsanwalt, ein kleiner schwärzlicher Herr mit einem scharfen Gesicht und einem Kneifer auf der energischen Nase, wandte sich zuerst an den Oberst:

„Ich habe die Ehre, den Herrn Oberst außer Dienst Egbert von Vogtriz –?“

Der Oberst verneigte sich.

„Sie, mein Herr“ – der kleine Herr hatte sich zu dem Grafen gewandt – „sind der Herr Graf Serge Alexei von Pahlen?“

Der Graf lächelte und machte eine sehr höfliche Verbeugung.

„Und Sie, mein Herr,“ fuhr der Staatsanwalt, Adalbert fixirend, fort, „habe ich das Vergnügen, von Person zu kennen: Herr Referendar doctor juris Adalbert von Werin?“

„Das Vergnügen ist gegenseitig,“ sagte Adalbert.

„So wollen die Herren verzeihen, wenn ich meine peinliche Pflicht erfülle,“ fuhr der Staatsanwalt fort. „Im Namen des Gesetzes: ich verhafte wegen des auf Ihnen ruhenden Verdachtes des Hochverrathes Sie, Herr Oberst von Vogtriz; Sie, Herr Graf von Pahlen, und Sie, Herr Referendar von Werin, und ersuche Sie, mir auf der Stelle zu folgen. Ich nehme an, daß Sie dazu bereit sind.“

„Ich bin bereit,“ sagte der Oberst.

„Auch ich,“ sagte der Graf.

„Und Sie, mein Herr?“

„Ich bin völlig bereit,“ sagte Adalbert, „wenn Sie nur die Güte haben wollen, mir zu erlauben, eine kleine Veränderung mit mir vorzunehmen.“

„Ich erlaube mir zu bemerken, daß ich in großer Eile bin und eine längere Hinzögerung nicht verstatten kann,“ erwiderte der Staatsanwalt mit einiger Lebhaftigkeit.

„Die Sache ist in einer Sekunde geschehen,“ sagte Adalbert.

Er hatte ohne Hast, wie zufällig, die großen Rohrlehnsessel so durch einander geschoben, daß dieselben nebst dem runden Tisch eine Art von Schranke zwischen ihm und uns Uebrigen im Zimmer bildeten.

„Jeder Widerstand ist vergeblich!“ rief der Staatsanwalt in großer Erregung.

Ich wußte nicht, wie der Mann zu dem Ausrufe kam: die kleine Barrikade, auch wenn sie nicht zufällig entstanden, wie ich angenommen, konnte ihn doch unmöglich erschrecken. Und jetzt erst sah ich, was der Staatsauwalt zweifellos vor mir gesehen hatte: den blinkenden Lauf eines Revolvers in Adalbert’s herabhängender rechter Hand. Ich wollte mich auf ihn stürzen; er wehrte mit der erhobenen Linken ab: „Lothar, willst Du dem Herrn da ins Handwerk greifen?“

Er richtete sich straff auf und sagte, zu uns gewandt, mit völlig ruhiger, heiterer Stimme, während ein freundlicheres Lächeln, als ich es je an ihm gesehen, seine Lippen umspielte: „Der Unsinn siegt hier, wie er es ewig und immer thun wird. Ich aber habe keine Lust, über Etwas, das mir so klar ist, ein Dutzend Jahre oder so hinter Schloß und Riegel weiter nachzudenken. Leben Sie wohl! Grüßen Sie die Damen und verzeihen Sie, Herr Staatsanwalt, die kleine Diversion!“

Im nächsten Augenblicke hielten wir in den Händen einen dahingestreckten Körper, der noch ein paarmal zuckte und dann die feinen schlanken Glieder streckte zum ewigen Schlaf.


10.

Es war eine Woche später, als meine Mutter und ich Nachmittags, von Berlin kommend, in der kleinen Residenz eintrafen, mit welcher sich für sie und für mich die Erinnerung der schönsten und auch der traurigsten Stunden in unserem Leben verknüpfte. Der schlanke Bahnhofsinspektor mit den freundlichen blauen Augen und dem prächtigen braunen Vollbart öffnete uns das Koupé. Wir schüttelten uns als alte Bekannte herzlich die Hände, ich stellte ihn der Mutter vor und mußte, wie ernst mir auch zu Muthe war, heimlich lächeln über die Bewunderung, welche sich in den offenen Zügen des Mannes malte – es konnte eben Niemand meiner Mutter ohne Bewegung in die zaubermächtigen Augen sehen. Selbst seine sonore Stimme bebte, als er mit militärisch straffer Haltung meldete: es sei ein Brief Bahnhof restante für die gnädige Frau da. Ob die gnädige Frau erlaube, daß er den Brief hole? Er bitte zu dem Zwecke nur um eine Visitenkarte. Meine Mutter dankte: sie wolle selbst nach dem Briefe gehen, auf den eine Erwiderung nöthig sein werde, die sie am besten gleich im Bureau schreibe.

„So darf ich die gnädige Frau dahin begleiten?“ sagte der Inspektor.

„Ich brauche Sie nicht zu bemühen,“ sagte meine Mutter; „ich weiß hier sehr gut Bescheid.“

Sie entfernte sich eilig nach den Gebäuden zu. Ich wäre gern mit ihr gegangen. Der erwartete Brief konnte nur von Maria sein, die vorgestern auf ein Telegramm aus der süddeutschen Universitätsstadt, in welcher sich Ulrich im vorigen Herbst habilitiren wollte, dorthin gereist war. Das Telegramm war von dem Arzte, der Ulrich behandelte, und hatte nur die Worte enthalten: „Herr von Vogtriz, schwer erkrankt, wünscht Sie zu sehen, bitte umgehend kommen.“ Es war die erste Kunde, die uns Geängsteten,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 681. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_681.jpg&oldid=- (Version vom 6.12.2022)