Seite:Die Gartenlaube (1886) 656.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Wie ich mich des Abends erinnere!

Nur dieses Abends? Als ob nicht alle in meiner Erinnerung ständen, leuchtend in einem zaubrischen Glanz, den sie einer Sonne verdanken, die untergegangen ist, wie die, welche durch die Laubengänge des Paradieses zitterte, und nie, wie oft auch noch aus Abend und Morgen ein neuer Tag werden mag, in so himmlischer Klarheit wieder aufgehen kann!

Und schon sollten jenem Abend nicht mehr viele seines Gleichen folgen.

Es mochte eine Woche seitdem vergangen sein, als ich meine Mutter allein fand und in einer ungewöhnlichen Erregung.

Sie war an dem Vormittage, diesmal ohne Ellinor, wieder bei Otto gewesen und hatte dort meinen Stiefbruder August vorgefunden. Daß August von England seine Schritte nach Deutschland lenken würde, wußte sie von mir, und so hatte sie das Wiedersehen nicht eben überrascht. Auch dachte sie zu groß, um dem Wilden den Haß nachzutragen, welchen er von frühester Jugend an, bis er das väterliche Haus verließ, gegen die Stiefmutter an den Tag gelegt; und er hatte heute keine Veranlassung gegeben, der alten Zeit zu gedenken, sondern war, wenn auch schweigsam und zurückhaltend, so doch höflich, ja zuvorkommend gewesen, völlig wie ein Mann, sagte die Mutter, der die Welt kennt und weiß, was er sich und Anderen schuldig ist. Aber er hatte auch die Absicht ausgesprochen, bei Otto zu bleiben und in dessen Geschäft eintreten zu wollen, und das erschien meiner Mutter äußerst bedenklich. Mit vollem Recht. Jetzt ging bei Otto Alles vortrefflich. Er stöhnte und klagte, wie immer, – aus Gewohnheit; innerlich war er zufrieden und glücklich, soweit es ein Mensch seiner Art überhaupt sein kann. Damit würde es nun wieder vorbei sein. In der Nähe eines Pulverfasses lebt es sich nicht behaglich, besonders mit Otto’s ewig zitternden Nerven. Und daß August sein altes anarchistisches Handwerk auch als Tischler fortsetzen werde, daran war ja nicht zu zweifeln.

Das lautete schlimm; schlimmer, was die Mutter weiter berichtete.

Während sie noch mit August gesprochen hatte, war Weißfisch erschienen, um den lieben Freund bei seiner Ankunft zu bewillkommnen. Meine Mutter hatte den Eindruck gehabt, als ob der verhaßte Mensch auch von Otto als Jemand, der in dem Hause aus- und eingehe, empfangen worden sei. Sie selbst war von ihm mit großer Höflichkeit begrüßt und um die Erlaubuiß gebeten worden, ihr „in einer wichtigen Angelegenheit aufwarten zu dürfen“.

„Ich überwand meinen Abscheu,“ fuhr meine Mutter erregt fort, „und sagte, daß ich ihn empfangen wolle. Vor einer Stunde ist er hier gewesen. Ich ließ ihn gar nicht erst zu Worte kommen, sondern sagte ihm, daß ich, wenn er Dich und mich nicht in Ruhe lasse, uns vor ihm Ruhe verschaffen würde. Es war ein gräuliches Lächeln, was der Mensch da lächelte. Und nun will das Unglück, daß in demselben Augenblicke Adele, die drüben bei Ellinor war und jetzt noch ist, da zur Thür hereinkommt. Sie zuckte freilich sofort zurück, als sie sah, wer hier war, aber es war zu spät. Der Mensch hatte sie erkannt. Er lächelte womöglich noch gräulicher und sagte: ,Sie behandeln mich gerade so schlecht wie Ihr Herr Sohn, obgleich ich es doch nur gut mit Ihnen Beiden meine. Wäre es nicht der Fall, so könnte ich mich jetzt schlimm an Ihnen rächen und an der Dame, die dort eben vor mir geflohen ist, als wäre ich ein wildes Thier, und an dem Herrn Grafen, der also zweifelsohne auch in Berlin ist, und dessen Wohnung auszukundschaften mir nun weiter keine Schwierigkeiten machen dürfte. Es wäre ein schöner Fang für die Polizei, mit der mir die gnädige Frau eben gedroht hat! Sie würde unserer Hoheit gern den Gefallen thun, ihm den unbequemen Herrn Schwiegersohn abzunehmen und unter Schloß und Riegel zu bringen. Denn Hoheit ist wüthend, daß Sie alle Verhandlungen mit ihm abgebrochen, ja es abgelehnt haben, Herrn von Renten nochmals zu empfangen, trotzdem derselbe mit noch günstigeren Bedingungen kam, als das erste Mal. Ich rathe Ihnen zum Guten, gnädige Frau. Es ist noch nicht zu spät; und ein so verächtlicher Mensch ich Ihnen erscheine, wenn Sie sich mir anvertrauen wollen – und darum zu bitten, bin ich eben gekommen – ich könnte Ihre Sache besser führen als Herr von Renten. Also besinnen Sie sich, sonst – ich will Jhnen nicht drohen – ich will auch die Zusammenkünfte der Herrschaften hier nicht stören – ich sage nur: besinnen Sie sich! Meine Adresse kann Ihr Herr Sohn jeden Augenblick durch den August erfahren. Ich gebe Ihnen von heute Abend noch acht Tage Zeit und hoffe mit Bestimmtheit, daß Sie sich bis dahin besonnen haben? – Damit ging er.“

Ich war über diese Nachrichten sehr bestürzt. Daß August sich auf die Dauer bei Otto einquartiert – jedenfalls unter falschem Namen und mit falschen Papieren – erschien mir aufs Aeußerste bedenklich; und ebenso beklagte ich die Sorglosigkeit, mit welcher Pahlen und Adele in letzter Zeit die frühere Zurückgezogenheit aufgegeben und nun schließlich den gefährlichen Menschen, der überall herumspionirte, auf ihre Spur gebracht hatten. Was war nun zu thun?

Wir beriethen das gemeinschaftlich mit dem Grafen und Adalbert, die inzwischen gekommen waren. Zu meinem Erstaunen nahm Pahlen die Sache leicht. Daß die Polizei früher oder später seinen Aufenthalt entdecken würde, habe er von vornherein angenommen; er habe indessen Grund, zu glauben, man werde ihn unbehelligt lassen. Seine Quelle sei sogar sehr sicher, nämlich: seine eigene Gesandtschaft in Person eines der Attaches, der sein geschworener Freund sei, und mit dem er ausführlich die Angelegenheit besprochen habe. Der Attache sei der Ansicht, daß ihm von Seiten Rußlands keine Gefahr drohe. Seine Verbannung nach Sibirien habe in den höchsten Petersburger Adelskreisen und in der unmittelbarsten Umgebung des Zaren den schwersten Anstoß erregt; und der Zar selbst, als ihm die Nachricht von der gelungenen Flucht hinterbracht wurde, geäußert: Gott sei Dank, daß ich ihn los bin! Man werde also keineswegs seine Auslieferung verlangen, und die hiesige Polizei sich damit begnügen, ihn eben nur zu überwachen, im Uebrigen aber ihn unbehelligt lassen, so lange er nichts gegen Deutschland oder den preußischen Staat unternehme.

„Was den Weißfisch betrifft,“ fuhr er fort, „so rathe ich der gnädigen Frau dringend, dem Erpressungsversuch – denn weiter ist es nichts – keine Folge zu geben: es würde sicher eine Schraube ohne Ende sein; und bitte dringend, daß man sich um meinetwillen nicht in noch dazu ganz unnöthige Kosten stürzt. Wie gesagt: ich fürchte den Mann nicht. Um so weniger, als ich jetzt annehmen muß, daß er, wie moralisch verlumpt er auch sonst sein mag, doch so weit ein guter Socialdemokrat ist – nach der Versicherung Deines Stiefbruders August, lieber Lothar. Ich habe die Bekanntschaft dieses Erzrevolutionärs gemacht. Er war noch eben bei mir, um mir Grüße von den Freunden in London zu bringen und Nachrichten über den dortigen Stand unsrer Angelegenheiten. Auf den Weißfisch, den er heute Morgen mit Ihnen, gnädige Frau, zusammengesehen, brachte er selbst die Rede. August ist ein sehr kluger Mensch und kennt seine Leute. Weißfisch gilt in der Partei für ein mauvais sujet: aber er hat sich wiederholt so nützlich gemacht, daß man ihn nicht fallen lassen will. Wir müssen eben leider auch mit solchen Subjekten arbeiten und können es mit ziemlicher Sicherheit, da sie recht gut wissen, daß einem eklatanten Verrath eine eklatante Rache auf dem Fuße folgen würde. Wie denken Sie über die Sache, Werin?“

Adalbert war der Ansicht des Grafen. Er kenne Weißfisch nicht persönlich, aber habe viel von ihm gehört: ein ausbündiger Schuft, aber ein Schlaukopf ersten Ranges und ebenso großer Feigling, der schon aus reiner Feigheit niemals wagen würde, zum Verräther zu werden.

„Und nun denke ich,“ sagte meine Mutter; „wir lassen die Sache fallen, die uns schon länger beschäftigt hat, als sie werth ist.“

Wir ließen die Sache fallen und kamen auch in den folgenden Tagen nicht wieder auf dieselbe zurück. Es war eine Reihe von Ereignissen eingetreten in raschester Folge, wie Blitze, welche an heißem Sommertage aus einer mit Elektricität überladenen Wolke fahren, und unter denen auch leider mehr als ein Schlag war, der zündend in den Prachtbau meines Glückes fiel und denselben so schnell zerstören zu wollen schien, wie er entstanden war.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 656. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_656.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2023)