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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Die Pöllatschlucht mit der Marienbrücke,
vom Schlafzimmer König Ludwig’s II. aus gesehen.

Aus den Schlössern König Ludwig’s II.

II. Neuschwanstein.

Unter den Schöpfungen König Ludwig’s II. von Bayern nimmt Schloß Neuschwanstein unbestritten den ersten Rang ein. Dieser prachtvolle Bau allein kann als vollkommenes Kunstwerk bezeichnet werden. Kunst und Natur sind hier zu einer seltenen Harmonie gebracht, welche im Beschauer einen großen und unvergänglichen Eindruck hinterläßt.

Unweit der bayerisch-tirolischen Grenze liegt das alte Städtchen Füssen mit grauen Häusern und verwitterten Thürmen; als Grenzwacht jener im Laufe der Geschichte viel umstrittenen Straße, welche am schäumenden Lechstrome entlang von hier aus in die Felsenthäler der Alpen führt. Eine kleine Stunde von diesem Städtchen, am Rande des Gebirges hinwandernd, sieht man hoch auf felsigen waldumbüschten Bergvorsprüngen zwei Burgen aufragen: Hohenschwangau und Neuschwanstein. Wo jetzt Neuschwanstein steht, auf schwindelnder Felswand über der finstern Pöllatschlucht, stand einst die älteste der drei Ritterburgen, die von diesen Höhen aus in das Alpenvorland hinauslugten: Burgen, die schon in den Tagen der Römer und der Ostgothen vom klirrenden Schritt Gewaffneter widerhallten. Die Jahrhunderte hatten den Bergwald längst wieder über die Trümmer wachsen lassen, als König Ludwig auf den romantischen Gedanken kam, hier ein neues Prachtschloß aus dem Felsengrunde zu zaubern.

Anregung hierzu fand der König in reichem Maße. Hatte er doch seinen schönsten Jugendsommer in dem benachbarten Schlosse Hohenschwangau zugebracht; fühlte er doch, wie die ganze prächtige Landschaft hier durchweht ist vom Geiste historischer Erinnerung. Denn Hohenschwangau hatte ja nicht allein die römischen Legionen und die gothischen Heerscharen geschaut, sondern auch die Träger deutscher Kaiserkronen hatten hier vom schweren Staatswerke gerastet; Ludwig der Bayer und der Habsburger Maximilian I. hatten in den Schluchten der Schwangauer Berge den flüchtigen Gemsbock gejagt, und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_615.jpg&oldid=- (Version vom 26.2.2024)