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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

als Staarmatz neben ihm her und plappere unaufhörlich von Kunrad von Eberstein und Hildegund von Ortenau, und als sie den Forschungstein nicht fanden, setzten sie sich auf ihren Stammbaum und stiegen damit hoch empor, immer höher, bis in das zehnte Jahrhundert, und das sah sehr imponirend aus.

Als Hans am anderen Morgen erwachte, schien die Sonne hell durch das Fenster und seine Kleider waren wenigstens so weit getrocknet, daß er sie anlegen konnte. Es war noch früh am Tage und im Hause schien sich noch nichts zu regen; er beschloß deßhalb, sich die Ebersburg, wo er in voller Dunkelheit und im vollsten Unwetter angelangt war, jetzt bei Tageslicht zu besehen. Aus seinem Zimmer trat er sofort in den langen Gang, der sich durch ein Fenster erhellt zeigte, fand ohne besondere Mühe die steil gewundene Treppe mit den ausgetretenen Stufen und gelangte durch die Vorhalle in das Freie.

Die Ebersburg war ohne Zweifel in früherer Zeit ein starkes stattliches Bergschloß gewesen, vielleicht im Laufe der Jahrhunderte mehrmals zerstört und immer wieder aufgebaut worden, jetzt war sie nur noch eine Ruine. Der größte Theil lag in Trümmern, was von dem Mauerwerk noch stand, schien dem Zerfall nahe zu sein. Im Schloßhofe wuchs das Gras lustig empor, dazwischen hatte sich eine ganze Generation von Gesträuchen und jungen Bäumchen angesiedelt, die den Raum zu einer förmlichen Wildniß machten. Auch von der Zinne des alten Wartthurms, der noch anscheinend unversehrt stand, winkte grünes Gesträuch und zu den Fensteröffnungen flogen die Dohlen ein und aus. Dazwischen lagen verfallene Gewölbe, halb versunkene Mauern, und hier und da ragten die Ueberreste der eigentlichen Schloßräume empor.

Der einzige noch erhaltene Flügel, der von dem jetzigen Schloßherrn bewohnt wurde, hatte gleichfalls ein trostloses Ansehen. Die Ruine war in ihrer Verwilderung wenigstens malerisch, hier aber zeigte sich überall das Armselige, mühsam Zusammengeflickte, das den Verfall decken sollte und ihn nur um so krasser hervortreten ließ. Das graue zerbröckelnde Mauerwerk hatte einen grellen Kalkanstrich erhalten, die fehlenden Fenster und Thüren waren in der einfachsten Weise ersetzt und, wo die Räume nicht benutzt wurden, einfach mit Brettern verschlagen. Der prächtige alte Erker mußte sich ein ganz gewöhnliches Nothdach gefallen lassen, und die ehemals steinernen Stufen der Außentreppe, die zum Haupteingange führte, waren durch hölzerne ersetzt worden.

Hans Wehlau’s Künstlerauge war förmlich beleidigt von diesem Anblick; er wandte sich schleunigst wieder der Ruine zu, bahnte sich einen Weg durch die grüne Wildniß des Schloßhofes und gelangte endlich durch eine Maueröffnung, die wohl einst ein Pförtchen gewesen sein mochte, auf die ehemalige Burgterrasse. Hier aber wurde seinen weiteren Streifzügen ein Ziel gesetzt; denn aus dem Wartthurm, wo sich ein Stall zu befinden schien, tönte ein lustiges Meckern und gleich darauf sprang eine Ziege aus dem geöffneten Verschlage in das Freie; hinterdrein aber kam Fräulein Gerlinde, trotz der frühen Stunde schon in voller Toilette, das heißt in dem grauen Hauskleidchen von gestern, und trug in beiden Händen vorsichtig ein kleines hölzernes Milchgefäß, das bis an den Rand gefüllt war.

Das unerwartete Zusammentreffen überraschte beide Theile. Gerlinde blieb wie angewurzelt stehen, der Gast des Hauses mußte ja nun nothgedrnngen errathen, daß das Fräulein von Eberstein, das aus dem zehnten Jahrhundert stammte und eine unendliche Menge von Ahnen zählte, höchsteigenhändig die Ziege gemolken hatte, um die Milch für den Frühstückstisch zu beschaffen. Ihre sichtbare Bestürzung machte auch Hans verlegen, so daß auch er nicht das passende Wort fand, sondern sich mit einer stummen Verbeugung begnügte. Zum Glück begriff die Ziege das Peinliche der Situation und machte ihr ein Ende, indem sie in lustigem Bocksprunge gegen den Fremden anrannte und sich dann zurückkehrend so ungestüm an ihre junge Herrin schmiegte, daß das Gefäß ins Schwanken gerieth und ein Theil der Milch verschüttet wurde.

Das unterbrach in sehr glücklicher Weise die Verlegenheitspause; Hans eilte schleunigst herbei, um der jungen Dame die Milch abzunehmen, was sie sich auch gefallen ließ, aber sie sagte dabei leise wie entschuldigend:

„Muckerl freut sich so, wenn sie in das Freie kommt.“

„Gott sei Dank! Endlich etwas Anderes als mittelalterliche Chronik!“ dachte Hans, förmlich entzückt über diese Aeußerung. Er sprach seine Freude über die Lebhaftigkeit Muckerl’s aus, erkundigte sich angelegentlich nach deren Alter und Befinden und brachte dann zuvörderst seine Milch in Sicherheit, indem er sie auf einen Mauervorsprung niedersetzte, denn Muckerl betrachtete ihn mit höchst kritischen Blicken und schien sehr geneigt, den Angriff zu wiederholen, besann sich aber schließlich eines Besseren und machte sich über das saftige Gras her, welches den Boden bedeckte.

Der Blick von der Ebersburg war nur ein beschränkter, sie lag in einem ziemlich tiefen Thalkessel, und der ringsum an der Berglehne aufsteigende Wald verdeckte und raubte ihr die weitere Aussicht, aber sie lag wie eingebettet in ein grünes duftiges Waldmeer, dessen Wipfel leise im Morgenwinde schwankten und aus dem hier und da Vogelgezwitscher heraufklang.

Die Morgensonne überfluthete hell die alte Burgterrasse. Auch hier überall Verödung und Verfall, und doch überall frisches, blühendes Leben, das mitleidig die Zerstörung deckte. In der ehemaligen Ringmauer klafften breite Lücken, aber wildes Gesträuch wuchs daraus empor und bildete eine lebendige Brustwehr; der mächtige Wartthurm, in dem die Dohlen aus- und einflogen, war wie eingesponnen in einem Netze von dichtem dunkelgrünen Epheu; an die altersgrauen Trümmer ringsum schmiegte sich weiches Moos, und üppige Schlingpflanzen wucherten darüber hin. Auf jedem Stein, aus jeder Mauerspalte grünte und blühte es, und über dem Allem lag die tiefe, traumhafte Stille der ersten Morgenfrühe.

Inmitten dieser Ueberreste einer längst vergangenen Herrlichkeit stand der letzte Sprößling der Eberstein in dem grauen Aschenbrödelkleidchen, dicht an die Mauer geschmiegt. Verschwunden war die steife Haltung und das lächerliche Gebahren von gestern Abend, das junge Mädchen war offenbar befangen durch das Alleinsein mit dem fremden Gast und blickte mit dem Ausdruck eines erschrockenen Kindes zu ihm empor. Er bekam auf diese Weise zum ersten Male ihre Augen zu sehen, ein Paar schöne, braune Augen, sanft und schüchtern wie die eines Rehs, sie entsprachen vollkommen dem holden Gesichtchen.

Das Schweigen dauerte ziemlich lange. Hans war so angelegentlich beschäftigt, in die Augen zu blicken, die sich ihm endlich entschleierten, daß er darüber ganz vergaß, das Gespräch wieder aufzunehmen, und als er es schließlich doch that, geschah es in rein mechanischer Weise, er knüpfte unwillkürlich an das gestern Gehörte an.

„Ich habe vorhin einen Streifzug durch die Ebersburg unternommen,“ begann er. „Es muß einst eine stolze Veste gewesen sein, die sicher ihren Feinden zu schaffen gemacht hat, und eine Fehde zu der Zeit, wo Kunrad von Ortenau und Hildegund von Eberstein – nein, die Geschichte war ja wohl umgekehrt.“

Es war ein Unglück, daß er die Namen aussprach; sobald Fräulein Gerlinde vom Mittelalter hörte, wurde sie wieder starr und steif wie ein Holzbild; die langen Wimpern senkten sich, ebenso das Köpfchen und in dem alten Plappertone begann sie:

„Kunrad von Eberstein und Hildegund von Ortenau im Jahre des Heils –“

„Ja wohl, mein gnädiges Fräulein, ich weiß schon, ich erinnere mich jetzt ganz genau der Sache,“ fiel Hans entsetzt ein. „Ich bin durch Ihre Güte ja vollständig eingeweiht in die Chronik Ihres Hauses. Eigentlich wollte ich nur bemerken, daß der Aufenthalt auf dieser alten Bergveste doch sehr eintönig sein muß. Sie bringen Ihrem Herrn Vater sicher ein großes Opfer damit, eine junge Dame sehnt sich doch hinaus in die Welt und in das Leben.“

Gerlinde schüttelte verneinend das Haupt, und plötzlich öffnete sie den Mund und that mit der Unfehlbarkeit eines siebzigjährigen Weisen den Ausspruch:

„Die Welt und das Leben taugen gar nichts!“

„Nichts?“ fragte der junge Mann betreten. „Woher wissen Sie denn das so genau?“

„Mein Papa sagt das,“ versetzte Gerlinde mit einer Feierlichkeit, die bewies, daß die Aussprüche ihres Vaters für sie Orakel waren. „Die Welt ist immer schlechter geworden mit jedem Jahrhundert, und das jetzige steht nun vollends im Zeichen des Unterganges, denn der Adel hat gar keine Geltung mehr.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_594.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)