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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 32.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Sankt Michael erschien Hertha und ihrem Begleiter fast wie ein einsames Hochalpenthal, so eingebettet lag es in den grünen Alpen, die es rings umgaben. Es hatte nur einen einzigen Ausblick, der es freilich mit jedem anderen aufnahm, den Blick auf die Adlerwand. Der mächtige Felsenzug, der dort drüben aufstieg, in ernster, düsterer Majestät, beherrschte völlig die Aussicht und deckte all die anderen Berggipfel; war er doch selbst ein Gebirge mit dunklen Tannenwäldern, wild zerklüfteten Schluchten und stürzenden Wildbächen, deren Brausen dumpf herüberdrang. Die Wand selbst mit ihren nackten, starren Schroffen und ihrem jähen Absturz in die Tiefe schien unzugänglich für jedes menschliche Wesen, ihre Gipfel ragten zu schwindelnder Höhe empor, und der höchste derselben, das Haupt des Adlers, trug eine Gletscherkrone, die in blendender, eisfunkelnder Pracht dastand, seine riesigen Felsenschwingen schirmten das kleine Sankt Michael zu seinen Füßen. Die Wand führte ihren Namen mit Recht, sie glich in der That den ausgebreiteten Flügeln eines Adlers.

Das Schweigen hatte ziemlich lange gewährt, endlich brach Hertha es mit der Frage:

„Von jener Höhe also soll der Legende nach der Erzengel niedersteigen?“

„Mit dem ersten Morgenstrahl!“ ergänzte Michael, „dort drüben an der Adlerwand geht die Sonne auf. Das Volk hängt nun einmal mit unverbrüchlicher Treue an seinen altgeheiligten Ueberlieferungen, es läßt sich sein Frühlingsfest und seinen Sonnenkultus nicht nehmen. Es ist die uralte Lichtgottheit, die sich segnend oder verheerend dem Menschen zuwendet, die in den Donnerwolken zürnt und dann wieder mit ihrem Flammenschwert die Erde furcht, damit ihr das neue Frühlingsleben entsteige – die Kirche hat sie freilich hier mit der strahlenden Rüstung des Erzengels umkleidet.“

„Das klingt sehr ketzerisch,“ sagte die junge Gräfin vorwurfsvoll. „Lassen Sie das den Herrn Pfarrer und meine Mutter nicht hören. Man merkt es, daß Sie im Hause des Professors Wehlau aufgewachsen sind. Er war ja wohl ein Jugendfreund Ihres Vaters?“

Michael neigte nur wie zustimmend das Haupt. Der Professor hatte es ihm längst zur Pflicht gemacht, diese Annahme zu bestätigen, welche unbequemen Nachforschungen vorbeugen sollte, und die selbst Hans für Wahrheit nahm.

„Sie haben Ihren Vater sehr früh verloren?“

„Ja – sehr früh!“

„Und auch die Mutter?“

„Auch die Mutter!“

Es klang etwas wie aufquellendes Weh in diesem


Schach dem König.0 Nach dem Oelgemälde von H. Kaulbach.


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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 557. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_557.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)