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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

meiner Ehrenhaftigkeit einen gelinden Zweifel zu hegen, der sollte die Worte – still, alter Korpsbursch!

Kind, ich kann Dir nicht sagen, wie ich mich über Deinen hölzernen Brief gefreut habe. Wüßte ich noch nicht, wie gut ich Dir geblieben bin, ich wüßte es jetzt. Du glaubst ja in Deiner idealistischen Unschuld gar nicht, wie voll die Welt von Narren und Schurken ist, und kannst deßhalb nicht nachempfinden, wie unser einem, die wir in dieser realen, urgemeinen Welt zu leben verdammt sind, das Herz aufgeht, wenn so ein liebes ehrliches, enthusiastisches Gesicht, wie das Deine, nach so langen Jahren wieder auf der Bildfläche erscheint. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, daß Du Dich nur die Spur verändert hättest und etwa nicht mehr aus den großen blauen Augen schautest, in die man bis auf den tiefsten Grund sehen konnte, oder Dir Nasenflügel und Lippen nicht mehr zuckten, sobald Dich etwas lebhaft bewegt. Ich – nun, ich bin geworden, was so ein grobsinnlicher Klotz werden mußte, nachdem ihn die einzige Hand, in der er Wachs gewesen sein würde, verworfen hatte. Grüß’ mir meine todte Liebe, wenn Du sie das nächste Mal wieder siehst – ich nehme an, daß Ihr Euren alten Verkehr wieder aufgenommen habt.

Leider muß ich noch einige Tage in dem elenden Nest ausharren, um mich mit Anstand aus einer Affaire zu ziehen, auf die ich mich niemals hätte einlassen sollen. Ich will mich lieber in der Hölle habilitiren als hier in diesem Schafstall. Dann ist mein erster Weg zu Dir. Thu’ mir nur die einzige Liebe und wirf bis dahin den Hobel nicht weg! Ich muß Dich im Schurzfell sehen, damit ich in meiner Sterbestunde etwas habe, worüber ich mich todt lachen kann.

Dein alter Schlagododro (trotz alledem!).“

Ja, trotz alledem! Ich fühlte es tief, als ich diesen Brief gelesen, der mich zu gleicher Zeit gerührt und gekränkt, ergötzt und traurig gemacht hatte. Das Kränkende seines Zweifels an der Echtheit meiner Lebensführung, das Ergötzliche der derbkomischen Weise, in welcher er diesem Zweifel Ausdruck gegeben – das verflog bald; aber die Rührung und die Trauer blieben. Die Rührung über die Unverwüstlichkeit seiner Freundschaft zu mir; die Trauer, daß ein im Grunde so edler Geist, eine so groß angelegte Natur für die demokratische Sache verloren sein sollte, ohne im Kampfe für die entgegengesetzten Feldzeichen auch nur für sich selbst Ruhe und Befriedigung zu finden. So schreibt Niemand, der an seine Fahne glaubt. Dann aber brauchte meine, brauchte unsere Sache ihn ja auch noch nicht verloren zu geben; dann war er ja vielleicht doch noch zu gewinnen. Die edelgesinnten Menschen glauben schließlich doch alle an einen Gott. Und hatte sich dieser nur von dem alleinigen Gott abgewandt, weil ihn die Priesterin nicht hatte erhören wollen? Aber vielleicht kannte sie die Treue ihres Änbeters nicht; vielleicht rührte sie doch diese Treue; vielleicht war sie auch nicht mehr die Unnahbare, die sie gewesen, als sie in erster ungebrochener jungfräulich-herber Sprödigkeit ihren Tempeldienst begann.

Wie dem auch sein mochte – ich mußte Maria sehen und sprechen. Der Sonntag hatte mir um Mittag ein paar freie Stunden gebracht. In der Werkstatt hatten wir für heute Schicht gemacht; im Hause stand es so weit gut. Ich eilte, die seltene Muße zu dem Besuche zu benützen, der mir jetzt als eine Pflicht erschien, von der ich kaum begreifen konnte, wie ich sie so lange hatte verabsäumen mögen.

12.

Mit fast schon winterlicher Helle schien die Mittagssonne vom unbewölkten Himmel, als ich meine Expedition nach dem fernsten Westen der Stadt antrat, in welchem, dem Adreßbuch zufolge, die „verwittwete Frau Hauptmann von Werin“ und „Fräulein M. von Werin, Gemeindeschullehrerin,“ wohnten. Ich gelangte denn auch nach einstündiger Wanderung in die bezeichnete Gegend, aber es bedurfte vielfachen Nachfragens und manches Irrganges, bis ich das betreffende Haus entdeckte an dem äußersten Ende einer Straße, welche sich unmittelbar in die Felder öffnete und auch sonst nur durch einige wenige, weitzerstreute, wegen der plötzlich eingetretenen Kälte ins Stocken gerathene Neubauten sich als Straße ausweisen konnte. Eigentlich war es nur ein Häuschen: weißgetüncht, einstöckig, mit je zwei Fenstern rechts und links, einem schmalen Vorgärtchen und einem größeren Hintergarten, das erstere mit einem bescheidenen Holzgatter, das letztere nur mit einer niedrigen Hecke umgeben und dadurch erkenntlich. Denn von einem Baum war nichts zu sehen, und die Büsche, welche sich wohl im Sommer stattlicher ausnehmen mochten, waren jetzt auf das kümmerlichste Maß von Besenreisern zurückgebracht.

Ich wußte durch Adele, daß Frau von Werin sich ganz der Pflege von verwaisten oder bei den Eltern verkommenden Kindern widmete, die sie in ihr Haus nahm und als ihre eigenen erzog, hatte mir aber von dieser Thätigkeit, in welcher die seltene und seltsame Frau ganz aufgehen sollte, kein rechtes Bild machen können. Nun, als ich das Vorgärtchen durchschritten und in dem kleinen Flur des offenen Hauses nach vergeblichem Pochen an zwei Thüren eine dritte öffnete, hinter der ich einiges Geräusch vernahm und die Küche vermuthete, wurde mir ein solches Bild und gleich das rechte und eines von denen, die sich nie wieder in der Erinnerung verwischen.

Ich stand auf der Schwelle und blickte in ein großes helles Gemach, in welchem ich acht oder zehn Kinder von etwa vier bis acht oder zehn Jahren in dem offenen Raum vor den Bettchen, die an der Längswand, durch ganz schmale Zwischenräume getrennt, neben einander standen, in der wunderlichsten Beschäftigung fand. Freilich an und für sich war nichts Wunderliches daran; die Sache wurde es nur durch die Winzigkeit der Geschöpfchen und durch die scheinbar weit über ihr kindisches Alter hinausgehende intelligente Rührigkeit, welche sie dabei entwickelten. Sie kleideten sich nämlich an – offenbar zu einem Ausgange; vielmehr: sie kleideten einander an; denn das Eine, ein bischen ältere oder klügere, half dem Anderen jüngeren oder dümmeren in seine Stiefelchen, in sein Kittelchen hinein, bürstete ihm das schlichte Haar, setzte ihm das Mützchen auf, dessen Bänder es ihm unter dem Kinn zusammenband, drehte es vor sich herum, zu sehen, daß die Toilette tadellos vollendet sei – alles ohne Lärmen und Geschrei, fast lautlos, mit einer Ehrbarkeit, einer Gewissenhaftigkeit, die sehr drollig gewesen sein würde, nur daß sie noch um vieles rührender war.

Ich staunte nach dem nie gesehenen Schauspiel, als sich eine gegenüberliegende Thür öffnete und Frau von Werin in das Gemach trat, zum Ausgehen angezogen: in derben Schuhen, wetterfestem, bis an den Hals zugeknöpftem Paletot und rundem schmucklosen Hut mit mäßig breiter Krempe, unter welchem das krause, jetzt grau gewordene Haar hervorquoll. Auch das feine Gesicht schien mir älter in der mitleidslos hellen Beleuchtung, aber weniger starr und streng als damals.

Ich konnte diese Beobachtungen mit einer gewissen Ruhe anstellen, da sie mich nicht bemerkt hatte, indem ihr Blick sofort auf den Kindern haftete, von denen eines, wohl das älteste, auf sie zugegangen war, vielleicht, ihr Bericht zu erstatten. Sie sprach zu ihm einige Worte, wobei sie, die Hand auf seinem Kopfe, sich ein wenig zu ihm herabbog. Dann trat sie zu den anderen Kindern, die sie schnell einer Musterung unterzog, hier und da noch Einiges zurecht rückend und zupfend. Sie fand wenig zu thun. Dann setzte sich die kleine Schar nach der Thür, in der ich noch immer stand, in Bewegung, und die Dame, jetzt zum ersten Mal dahin blickend, sah mich. Sie hatte mich sofort erkannt. Ein freundliches Lächeln glitt über ihre Züge, indem sie mir, der ich mich ihr nun rasch näherte, über die Köpfe der Kinder hinweg, welche furchtlos zu dem Fremden aufblickten, die Hand reichte.

„Willkommen!“ sagte sie dabei.

Es war dasselbe Wort, mit dem sie mich früher noch jedesmal empfangen hatte, auch dasselbe Lächeln – als hätte sie mich gestern zum letzten Mal gesehen. Die Flucht der Zeit schien dieser Frau nichts zu bedeuten.

„Sie treffen uns in Begriff, unseren Spaziergang zu machen,“ fuhr sie fort. „Vielleicht begleiten Sie uns ein Stückchen. Ich schicke Sie zu rechter Zeit wieder zurück, damit ich Maria keine Minute der Freude raube, die ihr Ihr Besuch machen wird. Sie ist ausgegangen und wird –“ hier blickte sie nach der Uhr an der übrigens kahlen Wand – „in einer Viertelstunde zurück sein.“

So verließen wir das Zimmer und das Haus, das offen blieb, wie ich es gefunden hatte. Ich machte eine darauf bezügliche Bemerkung.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_546.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2019)