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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Die Heidelberger Karcer.

Sollte Jemand bei dem Worte Karcer an mittelalterliche Verließe denken, sollten die Bleikammern Venedigs, Londons Tower, die Bastille, der Spielberg mit dem Freiherrn von Trenck, der Hohenasperg mit dem unglücklichen Dichter Schubart vor den Augen seiner Seele aufsteigen, so braucht er nur einen Blick auf die nebenstehenden Bilder zu werfen, und das aufkeimende Schauergefühl wird sich in eine gelinde Lustigkeit verwandeln.

„Vestibulum“ Eingang zum Heidelberger Karcer.
Nach einer Photographie von Karl Lange in Heidelberg.

Ja, in diesen Räumen ist nichts von Finsterniß, Grabeskälte, Moderluft, Schlangenbiß und Unkenruf, nichts von Ketten und Fesseln. Gottes Sonne schaut voll herein in stattliche Stuben; das unvermeidliche Stroh findet sich nur in den Säcken bequemer Lagerstätten; Wasser und Brot erscheint in Gestalt von Braten und Bier, Austern und Chablis, ja selbst Fruchteis und Champagner, wenn wir den redseligen Wänden Glauben schenken dürfen. Die Stelle des Kerkermeisters vertritt die schmucke Karoline, nach der hier so viele Lippen geseufzt haben und so viele Herzensergießungen in Poesie und Prosa noch seufzen. Kein Schrei der Verzweiflung bricht sich an diesen buntscheckigen Mauern; melodischer Sang jugendlicher Bierkehlen hallt in ihnen wider; statt wilder Flüche steigen zum Himmel die blauen Ringe des duftigen Barinas; statt der krampfhaft geballten Fäuste sind wohlgepflegte Hände bestrebt, mit anmuthiger Galanterie die Freuden des Karcers zu schildern, ihm Schattenrisse und Photographien zu widmen, die Namen unter Beifügung launiger Bildlein und lustigen Reimwerks in das Stammbuch seiner Wände, Balken, Tische, Stühle etc. einzutragen.

„Solitude“ im Heidelberger Karcer.
Nach einer Photographie von Karl Lange in Heidelberg.

Die Karcerstuben sind nicht viel weniger hoch und breit, als auch sonst die Studentenbuden zu sein pflegen, an je einer dem Dach entsprechenden Seite abgestutzt und von Gebälk durchzogen. Ueberall finden sich ein Ofen, zwei Bettstellen mit Strohsäcken, zwei Tische, zwei Stühle, ein Rouleau, in „Solitude“ sogar eine Klingel mit der Unterschrift darunter: „Bitte zu klingeln: einmal Karoline, zweimal Valentin, dreizehnmal ein Polyp[1], 14 Stunden lang unausgesetzt für den Bierrichter!“ – Für Decken, Kopfkissen, Plumeaus, Toilettengegenstände etc. hat der zum Karcer verurtheilte Studio selbst zu sorgen. Das Essen läßt er sich bringen, wenn er es nicht vorzieht, während der ihm für Kollegienbesuch vergönnten freien, manchmal über den ganzen Tag ausgedehnten Stunden seinen Imbiß außerhalb einzunehmen. An Getränken wird eine bestimmte Portion Wein und Bier durch den Hausmeister verabreicht. Doch versteht es der Sträfling, sich damit nöthigen Falles auch auf Schleichwegen zu versorgen. Die Wäscherin, der Stiefelfuchs, benachbarte gute Freunde, ein Strick mit anhängenden Flaschen, der heimlich nach oben gezogen wird, verschaffen ihm den gewohnten Trunk.

Die Nacht wird gewöhnlich im Karcer schlafend zugebracht; doch meldet die Universitätschronik auch von nächtlicher Ueberkletterung des nördlichen Hofthors und Wiederzurücksteigen mittels Leitern, so daß bei der Morgenvisitation die Vögel wieder zwitschernd oder schnarchend im Käfig angetroffen wurden.

Ist der Student aus einer der unzähligen zumeist harmlosen, an den Wänden abzulesenden Ursachen inhaftirt worden, so ist seine nächste Beschäftigung, sich in Bild oder Schrift zu verewigen. Die Silhouetten werden mit Hilfe des Lichts gemalt, indem dasselbe den Schatten des Delinquentenkopfes auf die Wand wirft, der einfach nachgezeichnet wird. Zu diesem Geschäft sind natürlich zwei Personen erforderlich. Das umrissene Konterfei wird dann mit Tusche, Tinte, Oelfarbe, Kienruß, Wichse und anderen schwärzenden Materien ausgefüllt und die umgebende Partie so weit abgekratzt, daß das Profil erkennbar sich abhebt.

Die Namen werden gleichfalls mit dem verschiedensten Material an allen denkbaren Orten angebracht, sie werden geschrieben, gepinselt, geschmiert, gekratzt, geschnitten, gravirt, und zwar auf die Decken, die Balken, die Wand, die Bettstatt, Tische, Stühle, Rouleaus, Fenster; selbst Kaminthüren und Tischschubladen müssen herhalten, um diese internationale Autographensammlung bereichern zu helfen. Dazwischen sind massenhafte Verse gekritzelt, so daß auf den ersten Blick die Karcerwände den Eindruck machen, als seien sie von oben bis unten mit förmlichen Hieroglyphen übersäet. Jetzt sieht der Karcer so aus, wie unsere Bilder ihn naturgetreu wiedergeben, aber in verhältnißmäßig kurzer Zeit wird er eine ganz andere Physiognomie zur Schau tragen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 533. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_533.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2022)
  1. Studentenausdruck für Nachtwächter, Schutzmann etc.