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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

So weit war mir der Zusammenhang klar. Nun aber, als es an die Erzählung der Katastrophe ging, drohte, da Alle zugleich sprachen oder zu sprechen versuchten, eine solche Verwirrung hereinzubrechen, daß ich mir die Bemerkung erlaubte, ob es nicht besser sei, vorläufig wenigstens dem Familienvater allein das Wort zu lassen.

Ich hätte aber den Muth zu diesem Vorschlage nicht gehabt, wenn der dicke Herr, je mehr er von dem „Frauenzimmergetränk“ zu sich nahm, nicht immer nüchterner geworden wäre. Vielleicht war es auch nur, daß die bei der Erinnerung so merkwürdiger und für ihn so verhängnißvoller Tage erwachende leidenschaftliche Theilnahme den Sieg über den Rausch davontrug. Jedenfalls blickte aus seinen verschwommenen Augen etwas von der alten Kraft und dem alten Trotz des Bürgers der weiland freien und Hansa-Stadt, als er, mir seine breite Gestalt voll zuwendend, sagte:

„Haben ganz Recht, Lothar! Was wissen die Frauenzimmer von Dingen, bei denen sie nicht zugegen gewesen sind oder doch nicht Hand angelegt haben? Und Brinkmann war immer ein alter scheuer Fuchs, der sich retiré hält, wenn’s brenzlich wird, und gar Otto, der die ganze Geschichte nur aus den dämlichen Zeitungen kennt! Sie wissen Alle nichts; ich aber weiß es, und so ist es gewesen.“

5.

„An dem Hafen hat es angefangen, denn der sollte erweitert und ausgebaggert werden, daß die Schiffe bis unmittelbar an die Speicher herankommen konnten. Darüber mußten aber in dem alten Hafen eine Menge Leute ihr Brot verlieren: die Strandkarrer und Sackträger und die Anderen, die Alle oder doch zum größten Theil bei der neuen Einrichtung, wo die Schiffe aus den Speichern heraus beladen werden und ebenso bequem ihre Ladung löschen konnten, überflüssig wurden. Na, und Lothar, Sie kennen ja die Sorte! Und Matrosen, die nichts zu thun hatten, gab’s in dem Jahre auch genug; die thaten sich denn zusammen, und wo sie sich mit den Maurern und Zimmerern begegneten, da gab es blutige Köpfe. Meinetwegen, sie hatten kein Recht, die Leute von der Arbeit abzuhalten, aber wenn man die verdammten Speicher so in die Höhe steigen sah, das mußte einen ja wurmen, und da man dem Juden selbst nicht an den Kragen konnte, hielten wir uns an die, die ihm dabei geholfen. Ich sage: wir, denn ich bin ein- oder zweimal dabei gewesen. Zu thun hatte ich nichts mehr, und ich gönnte es dem Schuft von I. I. Kommt eines Tages der Pastor Renner zu mir und sagt: ,Das ist Alles ganz schön, Herr Hopp; aber die Speicher werden darum doch zum Herbst fertig, und jetzt hat er ein großes Terrain vor dem Schwedenthor gekauft, darauf will er eine Bierbrauerei en gros bauen, und vor dem Teichthor die sämmtlichen Gärten, die er rasiren lassen wird für eine Villen-Vorstadt.’ – ,Ja' sage ich, ,Pastor, der wird uns ja wohl noch Alle in die See werfen, wie verfaulte Heringe. Ist denn dagegen gar nichts zu thun?' – Man muß sehen, ob man nicht die Maurer und Zimmerer zum Streiken bringen kann,' sagt der Pastor. ,Viel hilft’s auch nicht; aber er kriegt dann doch die Speicher bis zum Herbst nicht unter Dach und hat dadurch Tausende an Schaden.' – Der Gedanke gefiel mir so weit ganz gut, und der Pastor schickte mir den Kerl, den Streben, mit dem sollte ich mich ins Benehmen setzen. Nun, ich und er, der übrigens ein ausgesottener Schuft ist, wie nur je einer einen ehrlichen Kerl in die Tinte gebracht hat – aber ich hatte damals ordentlich einen Narren an dem Kerl gefressen – also er und ich, wir beriefen dann eine Volksversammlung zusammen, zu der wir die Maurer und Zimmerer auch einluden, und auf der wir unsere Sache mit ihnen ins Gleiche bringen wollten. Ich präsidirte, und der Hauptredner war der Pastor selbst. Und eine schöne Rede war’s von Einigkeit und Brüderlichkeit, und daß wir alle arme Teufel wären zu unserm Seelenheil, damit wir dereinst in den Himmel kämen, wo wir sicher sein könnten, Herrn Israel nicht zu treffen, der freilich nicht ganz so groß wie ein Kamel – das gab ein Gelächter, Lothar, kann ich Ihnen sagen! – aber eben so wenig wie ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe und durch die Himmelspforte auch nicht. Das behaupte er, denn er könne es aus der Bibel beweisen. Wenn die Herren Maurer und Zimmerer aber doch so schlechte Christen seien und durchaus einen Juden im Himmel haben wollten, so sollten sie wenigstens dazu das Ihre thun, indem sie ihm von seinem irdischen Mammon so viel als möglich abnähmen und nicht für den elenden Lohn arbeiteten, da sie doch jeden Augenblick einen doppelt so großen haben könnten, wenn sie nur zusammenhielten. Na, Lothar, nun war der Rummel im Gang. Mit dem Zusammenhalten sah es freilich man schwach aus, denn die Maurer wollten streiken und auch nicht alle; die Zimmerer und Tischler aber nicht, und nun lagen sich wieder die unter einander in den Haaren. Das ging wohl so acht Tage lang, und jeden Tag ein größerer Krawall als an dem vorangehenden, bis wir – Streben und ich – wieder eine Volksversammlung ausschrieben, zu der auch der Professor mit seinen Leuten kam. Das gab einen Tanz! Der Professor und der Pfaff sagten einander die schönsten Dinge. ,Jesuit, Volksverführer!’ rief der Professor; ,Herrgottsleugner, Judenfreund!’ schrie der Pfaff. Na, Lothar, wenn ich die Sache recht bedenke, der Professor meinte es mit uns ehrlich, und der Pfaff wollte nur sein Müthchen kühlen an dem Juden, und wir sollten ihm die Kastanien aus dem Feuer holen; aber er redete uns nach dem Munde, und der Andere nicht. Und da wir gegen ihn und seine Leute vier zu eins waren, warfen wir sie hinaus, oder wollten sie doch hinauswerfen, und es gab einen furchtbaren Spektakel, als der Streben auf den Tisch sprang und eine Rede anfing, so was haben Sie nie gehört. Der Kerl war wie besessen, raufte sich das Haar und heulte und schrie: es sei eine Sünde und Schande, daß sich tausend ehrliche Christenmenschen in den Haaren lägen um des einen Juden willen, und wir sollten von einander lassen und Buße thun und es machen wie die Vorfahren von dem Juden es gemacht hätten, die ihre Sünden alle auf einen Haufen warfen und den Haufen auf einen Bock luden und den Bock zur Stadt hinaus in die Wüste trieben. Na, Lothar, da war denn der Wagen geschmiert. Der Jud’ muß zur Stadt hinaus, schrien sie alle, auch die von der anderen Seite, denn wir waren auf beiden Seiten des Streitens und Raufens müde, und der Jud’ war doch am Ende an Allem schuld. Der Professor wollte dagegen reden; aber sie ließen ihn nicht mehr zu Worte kommen, und so ging’s denn in hellen Haufen in die Stadt zurück – wir waren in dem großen Evers’schen Tanzlokal vor dem Teichthor gewesen, wissen Sie, Lothar – und durch die Stadt, wo Alles mitlief, was Beine hatte, daß wir gut und gern an die Zweitausend sein mochten, als wir in die Hafengasse kamen, das heißt an die Speicher, denn eine Hafengasse giebt’s ja wohl nicht mehr, außer dem Haus von dem Juden. Na, Sie kennen es ja, Lothar!“

Ob ich es kannte, das alte hochgegiebelte Haus! Ich sah es im Geist vor mir und war im Hause unten im Familienzimmer linker Hand bei den geängstigten Frauen und sah die wüsten Haufen die Gasse heraufkommen, voran den Mann da mit der rothglühenden Nase (die er eben in sein Punschglas tauchte) und den schuftigen Streben.

H. H. wischte sich die Lippen und fuhr fort:

„Streben und ich und noch ein Dutzend Anderer hatten als Deputation hineingehen und dem Juden den Beschluß der Volksversammlung, daß er binnen vierundzwanzig Stunden aus der Stadt müsse, ausrichten sollen; aber als wir heranrückten, war die Straße von Polizisten gesperrt, und auf den Stufen vor der Hausthür standen auch noch welche. Der Schuft von Streben war plötzlich von meiner Seite weg, als wär’ er in die Erd’ geschlupft: das Kunststück verstand ich nicht, und da hatte mich einer von den Polizisten vor die Brust gestoßen, und das läßt sich Heinrich Hopp nicht gefallen, nicht einmal, wenn er nüchtern ist. Und das, will ich gern zugeben, war ich an dem Tage nicht. Aber wenn meine Frauenzimmer sagen, ich hätte nun wenigstens umkehren sollen, so sind sie eben nicht dabei gewesen. Da soll Einer umkehren, wenn ein paar Tausend hinterherdrängen: Komité, so viel noch da war, Polizisten, Alles in einem Haufen bis vor das Haus, wo der Polizeidirektor selber stand und auf mich einschrie und ich auf ihn, ohne daß Einer ein Wort vom Anderen verstanden hätte. Denn die Menschen tobten wie besessen, und es dauerte auch nicht lange, da hatten sie einen Balken herbeigeholt, mit dem wollen sie die Thür einstoßen. Die Frauenzimmer sagen wieder, das hätte ich nicht leiden sollen: aber sie haben gut reden hinterher. Wenn Einer selbst mitten mang ist, sieht die Sache anders aus. So sollt’s denn eben mit dem Balken

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