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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Studien nach dem Leben.
Von Hermann Heiberg.
Gewohnheiten und Unarten.
I.

Man sagt, daß jedes Blatt von den unzähligen, die auf den Bäumen wachsen, eine Verschiedenheit zeige. Die Richtigkeit dieser Behauptung wäre allerdings erst nachzuweisen, wenn man alle Blätter pflückte und in die Lage käme, sie sorgfältig zu vergleichen. Vielleicht ist’s auch so genau nicht zu nehmen, aber sicher ist, daß jedes Ding in dieser Welt, das todte und lebendige, etwas Individuelles hat, und das kann man beobachten, wohin man den Blick wendet. Also auch der Mensch. Und seiner Eigenart einmal nach einer besonderen Seite nachzuspüren, verlohnt sich wohl schon der Mühe.

Fast Jeder hat eine kleine ihm eigenthümliche, bisweilen auch unartige Gewohnheit. Je sorgfältiger ältere Augen in seiner Jugend über ihm wachten, je weiser die Mahnung, je nachahmenswerther das Beispiel, je geringer werden die Mängel dessen hervortreten, was wir gemeiniglich gute Erziehung nennen.

Gewohnheiten sind aber auch erblich. Sie gehen vom Großvater auf die Enkel über, aber in der Jugend kommt die Eigenart nicht allemal gleich zum Vorschein, sie entwickelt sich oft erst im späteren Alter.

Ich zählte einst bei einer älteren Dame während eines halbstündigen Gespräches einundvierzigmal das Wort Ja. Dieses Ja hatte einfache und doppelte Ausrufungszeichen, kleine und große Fragezeichen, klang sinnend und mitleidig, freundlich und erstaunt, war mißtrauisch und zornig und vierzigmal – unnöthig. – Das Ja und Nein – als Höflichkeitsdiener im Gespräch – äußert sich auch in Bewegungen und Gesichtsausdruck. Ich kannte einen Mann, der bei der Konversation seinen Beipflichtungen durch eine außerordentlich starke Vorwärtsbewegung des Kopfes Ausdruck verlieh. Es machte diese heftige Bewegung jedesmal den Eindruck, als ob ihm Jemand einen Schlag auf den Hals versetzte, und es war Einem Angst um den armen Mann. – Eine bedeutende Rolle spielt bei sehr vielen Menschen der Zeigefinger. Er macht lange, sich wiederholende Marschrouten auf der Stirn, Entdeckungsreisen auf der Nase und hämmert in Pausen die Mundwinkel oder tupft die Partie unter dem Kinn. Auch jene linksseitige Warze auf der Backe, die zufolge der Fortvererbung vielleicht schon zur Zeit der Kreuzzüge an derselben Stelle auf dem Gesicht eines der Vorfahren saß, wird von den Nachkommen gern und heftig gestrichen.

„Kaufen Sie Kornblumen?“
Nach dem Oelgemälde von A. Kozakiewicz.


Auch Ohrläppchen werden beim Nachdenken angefaßt und gestreichelt, als sei’s die Wange der Geliebten, aber Viele zupfen auch daran, als müsse es nun endlich gelingen, das Endchen abzulösen.

Die ganze Hand hat unendlich viele Beschäftigungen. Ich beobachtete einst in einem Restaurant einen Mann, der einen Brief schrieb. Nach jedem halben Satze, oft nach einem Worte, fuhr er sich mit der Hand durch das Haar, und zwar – das war mir so bemerkenswerth – glitten die gespreizten Finger stets über eine und dieselbe Stelle auf der linken Seite. Ich schaute mich unwillkürlich nach einem wettsüchtigen Engländer um, der auf einen Strich querüber, oder rechtsseitig, fünfzig Pfund gegen einen Gegner zu setzen bereit wäre.

Die ganze Hand treibt auch allerlei Beschäftigungen auf der Stirn, fährt über die Backen und klopft den Kahlköpfigen aufs Oberhaupt. Zum Nasenpeiniger werden Daumen und Zeigefinger benutzt. Einer meiner Bekannten kneift diesen schuldlosen Theil seines Körpers und hat glücklich bewirkt, daß sich eine gewisse spitz wirkende Röthe eingestellt hat. Diese beiden Finger haben auch sehr viele feste Anstellungen bei Männern, die hohe Kragen tragen und durch die fortwährende Berührung derselben eine unbewußte Zärtlichkeit gegen Wäscherinnen an den Tag legen. In schnellen regelmäßigen Pausen werden die Enden gepackt und zurecht geschoben. Häufig haben sie auch noch Pflichten, deren Ausübung sich tiefer nach unten erstreckt. Am Kragenausschnitte ist fortwährend zu thun, und die Kravatten mit und ohne Enden und Schleifen kommen niemals zur Ruhe.

Die vier Finger ohne Daumen sind vielfach als Putzer angestellt. Immerfort scheint dem nervösen Inhaber dieser Vier etwas Staub auf dem Rocke zu sitzen. Die absonderliche Bürste ist in andauernder Bewegung, und wenn gar Asche von der Cigarre herabfällt, nimmt’s mit dem Reinigen kein Ende.

Die ganze Hand verliert sich auch gern in Seiten- und Hintertaschen. Einer meiner Bekannten kann überhaupt etwas aufmerksam nicht betrachten, z. B. ein Gemälde in der Kunstgalerie, ohne beide Hände hinten zu vergraben, und ein Anderer schiebt die rechte Hand in die Brust und steht da, als ob er modellirt werden sollte. Der Daumen wird gern eingehakt. Viele haken ihn in die Rocköffnung, manche auch an derselben Stelle in die Weste.

Seitdem geschlossene Röcke in der Mode sind, verliert sich der Tommeltot (eine charakteristische dänische Bezeichnung für den kleinsten Finger der Hand) nicht mehr in die Westentaschen.

Eine besondere Species in der Gesellschaft bilden die Leute, welche Brillen oder Pincenez tragen. Ein Gelehrter, den ich kenne, nimmt die Brille ab, putzt sie, spricht, setzt sie wieder auf, zieht von Neuem das seidene Tuch hervor, putzt abermals, vergißt beim eifrigen Gespräch aufzusetzen, erinnert sich, reinigt nochmals, und schiebt nun endlich das Glas auf die Nase, um nach fünf Minuten dieselbe Procedur zu wiederholen. – Sehr gern wird auch mit den an Bändchen befestigten Gläsern gespielt. Sie werden benutzt, um der Handbewegung beim Sprechen einen nachdrücklicheren Impuls zu verleihen, sie werden geschwenkt, und mit ihren Rändern wird leise aber permanent auf den Tisch geklopft.

Manche Menschen sind fortwährende Lacher und zwar, wo nichts zu lachen ist. Die gleichgültigsten Reden begleiten sie mit einem lauten Geräusch, und nicht etwa aus Verlegenheit, sondern um ihren Worten eine größere Bedeutung beizulegen. Wie alles unzeitige abstoßend wirkt, so ist auch diese Gewohnheit ganz besonders störend. Lacher ohne Grund gleichen einem arg verstimmten Piano, man möchte sich die Ohren zuhalten. Einign haben die Gewohnheit, beim Zuhören den Mund in die Breite zu ziehen, als seien sie Kinder, die sich im Fratzenschneiden üben, und vieler Leute Hüsteln, Räuspern, Blinzeln und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_384.jpg&oldid=- (Version vom 14.3.2023)