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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Ich denke, wir heben nun die Tafel auf,“ sagte Herr von Vogtriz, sich erhebend und seinen Stuhl etwas gewaltsam zurückschiebend; „es ist die höchste Zeit, daß wir fort kommen.“

Die Anderen hätten seinem Beispiel nicht schneller folgen können, wenn der Tisch gebrannt hätte. Man machte einander stumm und verlegen die vorschriftsmäßigen Verbeugungen. Das Eintreten Axel’s von Blewitz schien Allen eine Errettung zu sein, so eifrig wurde er sofort umringt und mit Fragen und Vorwürfen wegen seines späten Kommens überschüttet. Ich benutzte die Gelegenheit, mich hinauszudrücken und auf unser Zimmer zu gehen, wohin mir Schlagododro beinahe auf dem Fuße folgte.

Schlagododro war wüthend, für den Augenblick ausschließlich auf mich.

„Weßhalb hast Du nicht den Mund gehalten?“ rief er, vor dem Spiegel wie toll auf seine struppige Mähne losbürstend. „Weßhalb bist Du mir ins Wort gefallen? Ich hätte die Geschichte schon in Ordnung gebracht. Aber Du bist und bleibst der richtige Don Quixote! Immer munter in die Windmühlen hinein! immer mitten mang! Natürlich! Und nun haben wir die Bescheerung. Meine Mama ist wirklich so gutmüthig, daß es ein Kind erbarmen könnte. Aber wenn man Einem auf sein bestes Hühnerauge tritt, und noch dazu absichtlich, da hört denn doch die größte Gemüthlichkeit auf.“

„Es thut mir sehr leid, diese Scene veranlaßt zu haben,“ sagte ich. „Du siehst nun, daß ich Recht hatte, wenn ich immer sagte: ich gehöre nicht hierher.“

„Unsinn!“ rief Schlagododro, in seinen schwarzen Rock fahrend, „nicht hierher gehören. Du gehörst überall hin, wenn Du willst. Aber Du willst nicht, das ist die Sache.“

„Nun denn: so will ich nicht,“ sagte ich, entschlossen, ein Ende zu machen, selbst um den Preis von Schlagododro’s Freundschaft.

Er sah mich mit rollenden Augen an.

„So!“ sagte er gedehnt. „Du willst nicht? Das ist etwas Anderes. Dann sehe ich freilich nicht, wie das werden soll.“

„Ich auch nicht.“

„Nur mit dem Unterschiede, daß Dir das weiter keine Schmerzen zu machen scheint.“

„Seine Schmerzen muß doch Jeder für sich behalten.“

Ich hatte, Schlagododro den Rücken kehrend, mich in das Fenster gestellt. Plötzlich fühlte ich seine Hand auf meiner Schulter:

„Lothar!“

„Was beliebt?“

„Lothar, Kind, sei vernünftig! Komm mit mir zur Mama! Oder erlaube, daß ich zu ihr gehe und ihr sage, Du habest das nicht so gemeint, oder dergleichen, und ich gebe Dir mein Wort, die Sache ist abgethan.“

„Ich habe es aber so gemeint.“

„Du willst wirklich nicht?“

„Nein.“

„Dann hol’s der Teufel!“

Er stürmte zum Zimmer hinaus und warf die Thür krachend hinter sich zu.

Ich war am Fenster stehen geblieben und starrte in den Garten. Da drüben war der Platz, wo ich sie zum ersten Mal gesehen hatte: „Hier bin ich!“

Die Augen wurden mir naß. Ich wollte die Thränen zurückhalten. Aber heißer und heißer quoll es in mir auf, und mich auf einen Stuhl am Fenster werfend, das Gesicht in die Hände drückend, weinte ich meinen Jammer aus. Mir schien es keine Schmerzen zu machen! O nein! mir nicht!

Endlich richtete ich mich wieder in die Höhe und blickte um mich. Es war mir, als ob da in meiner Brust etwas fehle, was vorher da gewesen, und als ob draußen die Sonne, die doch vorher so hell geschienen, seltsam matt geworden, und die Gegenstände im Zimmer ganz anders aussähen, so daß ich sie verwundert betrachtete.

Ein leises Pochen an der Thür machte mich erschrocken zusammenfahren. Wer konnte das sein? Schlagododro? aber der würde nicht so gepocht haben und war ja auch längst fort. Maria? Sie war nicht mit den Anderen! Sie hatte mich nicht verlassen. Sie hielt treu zu mir in dieser Stunde meiner bitteren Noth!

Ich stürzte nach der Thür, die ich aufriß: es war Weißfisch.

„Sie?“

Ich hätte beinahe laut aufgelacht, wie er ietzt da vor mir auf der Schwelle stand.

Ich habe später viel daran denken müssen: er, da ich doch Maria zu sehen erwartete. Er in dem Augenblick, da die schöne Welt einer ersten Liebe mit all ihren kindisch-erhabenen Träumen und Aspirationen hinter mir in Trümmer sank, auf der Schwelle einer neuen entgötterten Welt!

Gab mir ein Blick in die stechenden Augen des Mannes eine Ahnung von dem ungeheuren Riß, der da durch mein Leben ging? Das Lachen erstarb mir in der Kehle.

„Was führt Sie zu mir?“ stammelte ich.

Er war hart an mir vorüber in das Zimmer geschlüpft, so daß auch ich nun von der Thür zurücktreten mußte. Die Thür zu dem Schlafgemach nebenan stand weit offen.

„Ich dachte, ich könnte Ihnen etwas helfen,“ sagte er mit einem Blick nach dem Schlafgemach.

„Helfen? worin?“

„Worin? Worin Sie wollen, worin Sie befehlen. Ein junger Herr braucht ja allerlei Dienste. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, und es würde mir eine besondere Freude sein.“

Ich starrte den Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Er lächelte flüchtig.

„Würde mir diese Freiheit nicht nehmen, wenn der junge Herr nicht immer so besonders gütig gegen den armen Kammerdiener gewesen wären, und wenn mir der alte Braun nicht erzählt hätte, was da unten vorgefallen ist. Es soll ja ganz schrecklich gewesen sein. Kann’s mir denken. An den Kram darf man bei den Herrschaften nicht rühren – dann ist’s aus. Wissen zu gut, daß ihr Kram damit zusammenpurzelt. Der Herr Kammerherr hat sehr gelacht, als ich es ihm erzählte. ,Teufelskerl,‘ hat er gesagt, ,dazu hätte, glaube ich, nicht einmal ich den Muth gehabt.‘ Ich soll Sie auch schönstens grüßen, da er leider nicht in der Verfassung ist, Sie empfangen und Ihnen Adieu sagen zu können.“

„Woher weiß der Herr Kammerherr, daß ich fort will?“ rief ich.

Der Mann lächelte, diesmal ganz offen.

„Der Herr Kammerherr meinte nur. Bitte um Entschuldigung für ihn, wenn er sich geirrt haben sollte.“

Und er machte eine Bewegung nach der Thür.

Ich stand verstört da. Es war ja meine Absicht und mein Entschluß gewesen, zu gehen; aber ich hatte mir doch nicht völlig klar gemacht, daß ich gehen müsse, daß man es erwarte, nicht bloß die beleidigte Familie, sondern, wie ich nun hören mußte, auch der ganz unbetheiligte Kammerherr, der mich von Anfang an so protegirt hatte, und dem ich überdies durch mein Fortgehen seinen geliebten Komödienplan gänzlich aus den Fugen brachte.

Das schoß mir bei der Bewegung des Mannes durch den Kopf.

„Der Herr Kummerherr hat sich nicht geirrt,“ rief ich. „Ich will natürlich fort – auf der Stelle.“

Weißfisch hatte sich wieder zu mir gewandt. Seine hellen Augen glitzerten, das Lächeln, das um seinen breiten Mund zuckte, war schier lustig.

„Auf nach Franken!“ rief er im Tone und mit der Geste irgend eines Karl Moor. „So ist’s recht! Was wollen Sie auch länger bei diesen kleinen Herrschaften, die gern die Großen spielen möchten, bloß daß sie das Zeug dazu nicht haben? Das ist ja auch für einen anständigen Menschen zum Ekel.“

Er machte ein paar große Schritte durch den Raum, blieb dann wieder vor mir stehen und rief:

„Ich hab’s auch satt; möchte auch mal wieder – ei was: heraus damit! Wie wär’s, wenn Sie es einmal mit meiner Hoheit versuchten?“

Ich blickte den Mann erschrocken an: in seinem glattrasirten Gesicht zuckte es so wunderlich, die wasserblauen Augen blinkerten so gräulich – war er nicht recht bei Sinnen?

„Ja, ja!“ rief er, „es ist mein voller Ernst. Das wäre der rechte Mann für Sie; der hat Ideen im Kopf, verstehen Sie: nicht wie die Junkerchens hier! Große Ideen! Der würde Ihnen gefallen!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_246.jpg&oldid=- (Version vom 25.2.2024)