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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

leidenschaftlich. Weinte um was? Ganz gewiß um den unglücklichen Mann, aber: – „und mir ist, als könnt’s nicht sein!“ Nein: es konnte nimmer sein – nimmer! nimmer würde ich sagen können: „sie ist meine! sie ist mein!“

Ich war in jenem glücklichen Alter, in welchem man sich noch in den Schlaf zu weinen vermag. Das hatte ich denn gethan, wie ich zu meimer Beschämung bemerkte, als ich, nun wieder erwachend, Schlagododro bereits angezogen vor meinem Bette sah.

„Du armer Kerl!“ rief er. „Das war wohl eine schlechte Nacht für Dich! Ich hätte auch wohl früher daran denken können; aber wir prosaische Kerls vergessen ja immer, wie zart besaitet so eine Dichterseele ist. Uebrigens habe ich schon das Nöthige angeordnet: wir quartieren noch heute um. Keinen Widerspruch! Es ist Platz genug in dem alten Kasten. Und nun mache, daß Du in die Kleider kommst!“

Ich hatte Schlagododro bereits gestern Abend gebeten, mich heute Morgen in Haus und Hof herumzuführen; wir hatten jetzt die beste Zeit dazu. Herr von Vogtriz war mit dem Major und Ellinor ausgeritten; Frau von Vogtriz machte mit Maria und Fräulein Drechsler ihre Morgenpromenade; wir konnten unbehelligt durch alle Zimmer und Säle schweifen. Hatte mir gestern die äußere Ausdehnung des Schlosses mächtig imponirt, so wuchs heute mein Erstaunen über die Fülle der Räume, welche die dicken Mauern einschlossen. Wahrlich: es war Platz genug in dem alten Kasten. Hunderte von Menschen hätten in demselben mit größter Bequemlichkeit wohnen können! Auch stand der bei weitem größte Theil unbenutzt, oft nur dürftig mit ausgedienten Möbeln versehen; nicht wenige Gemächer waren völlig leer. Aber auch nur der bewohnte oder doch benutzte und völlig möblirte Theil – welcher Raumluxus und welche Pracht der Ausstattung! Da waren Säle mit breiten Spiegeln bis an die Stuckdecke und niedrigen Divans, die rings um die Wände liefen; da waren Zimmer, deren Plafonds große, farbenprächtige Bilder schmückten, mit nur roth-, andere mit nur blau-, andere mit nur gelbseidenen Möbeln. Wieder andere, in denen jedes Möbel aus dunklem Eichenholz, reich geschnitzt und, wie mir Schlagododro sagte, keines unter dreihundert Jahre alt; wieder andere mit Schränken, Kommoden, Tischen, sämmtlich in hellerem Holz mit kunstvoller Täfelung und großen blinkenden Messingbeschlägen.

Und wie wir so von Raum zu Raum wanderten, deren Zahl geradezu endlos schien, mußte ich an das kleine Häuschen in der Hafengasse denken mit seinen drei oder vier Zimmerchen, der engen knarrenden Treppe, dem dunklen Hof und dem Kämmerchen neben des Vaters Werkstatt, das kein anderes Licht hatte, als welches durch die Fensterluke in der schrägen Decke fiel. Ich würde mir selbst bitter Unrecht thun, wollte ich sagen, daß es Neid gewesen wäre, das peinliche Gefühl, welches mich, wie ich so dieser Vegleichung nachdachte, in immer stärkerem Grade überkam. Dazu war ich des bedürfnißlosen, neidlosen Vaters zu treuer Schüler. Es war gewiß nur, daß sich mir der ungeheure Gegensatz der Verhältnisse und Bedingungen, unter denen die verschiedenen Klassen leben, aufdrängte, und wahrscheinlich ging mein Denken noch nicht einmal so weit. Vielleicht war es nur die krasse Differenz zwischen Schlagododro’s und meinen Glücksumständen, und wie es möglich sein sollte, daß wir, trotz dieser Differenz, auf die Dauer Freundschaft halten sollten.

Hatte meine Miene gezeigt, was in mir vorging, diktirte es Schlagododro das eigne brave Herz, er kam plötzlich auf seine engeren Familienverhältnisse zu sprechen, die keinesweges so glänzend seien, als es wohl den Anschein habe. Einmal kämen Nonnendorf und die beiden anderen Güter Semmlitz und Brandshagen nicht vom Vater, der, wie seine Brüder, von Haus aus nur ein sehr bescheidenes Vermögen habe – vielmehr gehabt habe, denn es sei längst verbraucht – sondern von der Mutter, einer geborenen Gräfin Gransewitz, die dem Vater außer diesen noch zwei Güter mitbrachte, welche man bereits habe aufgeben müssen. Um den allerdings noch sehr stattlichen Rest zu retten oder zu sichern, habe die Familie der Mutter auf Errichtung eines Majorats gedrungen, das dann auch, nach einigem Sträuben von Seiten des Vaters, vor vier Jahren hergestellt worden, und dessen Inhaber derzeitig – nach den getroffenen Familienarrangements – der Vater sei. Nach ihm werde dasselbe auf Astolf, als den älteren Bruder, übergehen, während für ihn – Schlagododro – nichts bleibe, als was der Vater während seiner Majoratsschaft etwa „auf die hohe Kante“ lege.

„Na,“ sagte Schlagododro „und die schöne Kunst versteht der Papa, glaube ich, nicht besser als mein Großonkel hier, der Onkel aus Amerika, weißt Du, der niemals kommen wird, sintemalen er bereits vor fünfunddreißig Jahren oder so die lange Reihe seiner Thorheiten damit schloß, daß er sich, als er eben die Millionärin geheirathet hatte, hinlegte und starb.“

Wir standen in einem großen schönen Salon, der selten benutzt zu werden schien – es war eine abgestandene Luft in dem Raume mit den geschlossenen Fenstern und den herabgelassenen hellen Vorhängen – vor einem der Portraits, deren viele an den Wänden hingen. Mir schien es eine besonders schöne Arbeit, und stellte einen jungen Menschen von etwa zwanzig Jahren dar in der Tracht eines Jägers mit Flinte und Jagdtasche, neben ihm ein weißer Hühnerhund, der, die Mütze seines Herrn im Maul, sitzend, zu diesem aufblinzelte. Der Herr mochte sie ihm eben gegeben haben, um sich die braunen Locken aus der nassen Stirn zu streichen, und blickte nun so mit den großen dunkelblauen Augen erwartungs- oder sehnsuchtsvoll in die Ferne.

„Was sagst Du dazu?“ fragte Schlagododro.

„Wozu?“ erwiderte ich. „Dazu, daß der Herr zu so unpassender Zeit starb?“

„Nein, zu dem Bilde!“ sagte Schlagododro lachend; „zu ihm selbst! Gefällt Dir der Mann?“

„Sehr!“

„Nicht wahr, er ist schön?“

„Sehr schön.“

„Natürlich!“

„Wieso: natürlich?“

„Ich meinte nur so,“ erwiderte Schlagododro trocken; „aber findest Du keine Aehnlichkeit?“

Ich betrachtete das Bild genauer. Es hatte etwas, das mich an meine Mutter erinnerte, nicht, wie sie jetzt war, sondern, wie sie das Medaillonbild darstellte. Aber das meinte Schlagododro gewiß nicht: er hatte meine Mutter nur einmal und auch das nur flüchtig und im Halbdunkel auf der Treppe gesehen. Unzweifelhaft sollte es eine Vogtriz’sche Familienähnlichkeit sein. Und plötzlich kam mir die Erinnerung an Ernst von Vogtriz, den Sohn des Majors, der damals starb, als er in Ober- und ich in Unterquinta saß. Ja freilich, das waren die weichen braunen Locken und die großen glänzenden blauen Augen, die ich wohl im Gedächtniß behalten, wenn ich auch sonst das Gesicht des Knaben vergessen hatte. Ich sagte es Schlagododro.

„Richtig,“ rief er. „und sonst findest Du keine Aehnlichkeit? Besinne Dich doch: natürlich mit einem ebenfalls sehr schönen jungen Herrn.“

„Deinem Bruder?“

„Keine Spur! Mit Dir selber, Du Narr.“

„Mit mir?“ rief ich erstaunt.

Schlagododro, der während dieses Examens seinen Ernst, wie es schien, nur mit Mühe behauptet hatte, brach in ein tolles Gelächter aus.

„Aber diese Ähnlichkeit ist ja seit gestern das Gespräch der ganzen Familie,“ rief er. „Onkel Egbert hat sie entdeckt; will sie schon vor fünf Jahren entdeckt haben, als er Dich zum ersten Mal gesehen hat; das heißt damals solltest Du dem armen kleinen Vetter ähnlich sein, der eben gestorben war, und nun neuerdings dem Großonkel Jägersmann. Thu’ doch nur nicht so erstaunt! als ob Du nicht schon längst wüßtest, daß Du ein bildhübscher Junge bist!“

„Auf Ehre!“ rief ich, während ich fühlte, daß mir eine brennende Röthe im Gesicht aufschlug. „Erstens finde ich keine Spur von Aehnlichkeit mit mir, und zweitens –“

„Bist Du häßlich wie die Nacht!“ rief Schlagododro, mir herzlich den Arm um die Schulter legend. „Frage nur die Mädchen, sie werden es Dir bestätigen! Und nun komm, Du Nachtvogel, und laß uns frühstücken! Ich falle fast um vor Hunger.“

Ein respektvolles Räuspern machte uns Beide umblicken. Hinter uns stand Weißfisch und verbeugte sich; ich hatte das Gefühl, daß er schon länger dagestanden habe.

„Nun?“ sagte Schlagododro, der dasselbe denken mochte, ärgerlich.

„Ich bitte um Verzeihung,“ sagte Weißfisch; „ich habe die Herren überall gesucht. Der Herr Kammerherr läßt den Herrn Lorenz (hier verbeugte er sich wieder vor mir) um die Ehre seines Besuches bitten.“

„Mich nicht?“ fragte Schlagododro.

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