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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


Die Andere.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

So weit kam es! War ich denn blind gewesen bisher? Wie mit einem Zauberschlage trat Lottes Wesen in das wahre Licht: ihr Leichtsinn, ihre Frivolität erschienen mir grenzenlos in diesem Augenblick. Prinz Otto hatte den Bräutigam aus ihrem Herzen verdrängt; noch trug sie den Ring des Andern am Finger, und schon waren die treulosen Gedanken zum Fürstenschloß hinübergeflattert. Und heute, gerade heute –!

So stand ich, den Brief in der zitternden Hand, als sich langsam die Thür öffnete und Fritz Roden eintrat. Er kam zu mir herüber und bot mir die Hand; das flackernde Licht warf einen zuckenden Schein über sein Gesicht; es kam mir vor, als sei er ein Anderer geworden, so verändert sah er aus, oder machte es die Uniform, die er schon trug?

„Ich wollte Ihnen Lebewohl sagen, Fräulein Tone,“ sprach er, „Ihnen und Charlotte. Es ist besser, man scheidet in Frieden, wenn man auf solchen Wegen hinauszieht, wie ich. In dieser Nacht reise ich ab, um den Schnellzug in T. zu treffen. Morgen um zehn Uhr bin ich bei meinem Regiment.“

Er hatte sich, während er sprach, ruhig im Zimmer umgesehen und heftete nun seinen ernsten Blick fragend auf mich. Und als ich stumm blieb und nur mit der Hand auf den nächsten Sessel wies, sagte er: „Ich danke, Fräulein von Werthern, viel Zeit habe ich nicht, es muß so manches noch besprochen werden; was ich Ihnen zu sagen habe, läßt sich auch so abmachen." Er zögerte –. „Sie stehen nun so allein mit ihrer Schwester,“ begann er abermals –

Da drängte sie sich endlich empor, die ganze tiefe Bitterkeit meines Herzens, in den Aufschrei: „Allein! Ja ganz allein!“ Und dann brach ich in Thränen aus, die ersten seit dem Tode der alten Frau.

Nach ein paar Augenblicken wußte er Alles, Alles.

Eine furchtbare Pause entstand, durch nichts unterbrochen, als durch sein schweres Athemholen. „Hier können Sie nicht bleiben,“ sprach er endlich fast heiser, „ich bringe Sie zu meiner Mutter.“

Ich schüttelte den Kopf, aber er wiederholte sein „Kommen Sie“ jetzt so bestimmt und ruhig, daß ich ihm folgte, als hätte ich keinen eigenen Willen mehr. So gingen wir neben einander durch den stillen Garten; berauschend dufteten die Centifolien in dieser wonnigen Sommernacht, und vom Gutshof scholl das Singen der Mägde und Knechte. Ueberall tiefster heiliger Friede, nur in der Menschen Herzen Kampf und Noth. Einen Augenblick blieb er stehen, deutlich klangen die Worte des Soldatenliedes zu uns herüber:

Morgen marschiren wir, Ade! Ade! Ade!
Wie lieblich sang die Nachtigall
Vor meines Liebchens Haus,
Verklungen ist nun Sang und Schall,
Das Lieben ist nun aus,
Das Lieben ist nun aus – Ade!

Ob er an den Abend dachte, wo die Nachtigall gesungen und Lotte neben ihm stand? Er fuhr sich über die Augen; dann schritt er weiter, nicht langsamer und nicht rascher, und vor der Wohnstube angekommen, öffnete er die Thür und ließ mich eintreten. Verwundert schaute die alte Frau auf, die Wäsche in einen kleinen Koffer legte. „Hier bringe ich Tone, Mutter,“ rief er. Dann war er gegangen.

Ich konnte nicht anders, ich flüchtete zu ihr, schlang beide Arme um ihren Nacken und weinte von Neuem. Und als ich ihr endlich Alles geklagt, schob sie mich zurück und starrte mich an, als sei ich nicht bei Sinnen. „Lotte – Trauung!“ stammelte sie. „Weiß er – Alles? – Armer Junge, auch das noch!“

Dann schüttelte sie den Kopf und fragte wieder: „So rasch? Getraut – sagen Sie? Heute? Anita hat die Vermittlerin gespielt, natürlich! – Daß er die Einwilligung bekam? Freilich, er ist der Abgott seiner Mutter, und sie mögen froh sein, ihn unter der Haube zu wissen. Und die Eile? Das macht der Krieg, der Superintendent traut morgen fünf Paare. – Ach, wenn ich’s nur fassen könnte, Tone! – Tone, ich muß zu meinem Fritz!“

Doch ehe sie noch die Thür erreichte, trat er wieder ein. Angsterfüllt sahen wir ihn an, aber er setzte sich ruhig an den Tisch.

„Nun thue den Koffer weg,“ bat er seine Mutter, „die letzten paar Stunden laß uns gemüthlich sein mit einander. – Fräulein Tone, bleiben Sie bei meiner Mutter, wenn es Ihnen kein Opfer ist, die alte Frau ist gar so allein.“

Ich reichte ihm die Hand als Zusage; zarter konnte der Verlassenen keine Zuflucht geboten werden.

„Ich danke Ihnen,“ sprach er, „ich gehe nun ruhiger fort.“

So saßen wir, wie immer, in der gemüthlichen Wohnstube; auf dem Tische funkelte goldener Rheinwein in den alten Römern; es sah so still und friedvoll aus.

„Mögen wir uns glücklich wiedersehen,“ sprach er und stieß mit seiner Mutter an. Und dann redeten sie von diesem und jenem in der Wirthschaft, von allem Möglichen, nur nicht von dem, worüber sein Herz fast brach, und nicht vom Scheiden. Einmal noch fuhr er dunkelroth empor; Musik schallte in das Zimmer und Fackelglanz brach durch das Fenster – Prinz Otto bekam von den Reservisten ein Ständchen. Wunderbar feierlich erscholl es: Ein’ feste Burg ist unser Gott!

Begeisterte Hochrufe auf den Fürsten und den Prinzen folgten, und endlich das Lied, das Hunderttausende deutscher Herzen höher schlagen ließ:

„Es braust ein Ruf wie Donnerhall –“

und:

„Lieb Vaterland, kannst ruhig sein -“

Der alten Frau leuchteten die Augen. „Wo bleibt unser eignes Weh?“ fragte sie mich. „Weinen Sie nicht, Tone, es ist doch etwas Großes um ein ganzes Volk in Waffen.“ Und sie sah stolz zu ihrem „Jungen“ empor, obgleich ihr das alte Herz fast brach. Er war ihr Letzter.

Ich wollte die wenigen Augenblicke nicht stören, die Mutter und Sohn noch vereinten. Unter dem Vorwande, in unserer Wohnung allerlei verschließen zu müssen, entfernte ich mich. Und in den finsteren vereinsamten Räumen stellte ich mich ans Fenster und barg die fiebernde Stirn in mein Tuch. Lotte, ach Lotte!

Und allmählich ward es tiefe stille Nacht, lichtlos und schweigend lag das Schloß. Dann kam ein Wagen in schnellem Trabe daher und hielt jäh unter meinem Fenster. „Leben Sie wohl, Antonie,“ scholl es herauf.

Aber ich konnte nicht antworten; ich sank in die Kniee und legte meine Stirn auf den harten kalten Marmor der Fensterbank: schrankenlos brach der Jammer in mir durch. Wild und heiß habe ich geweint um sein und mein Elend und um das Leben, das so öd und hoffnungsarm vor mir lag.


„Die Frau Gräfin läßt das gnädige Fräulein bitten, in der Dämmerung doch einmal herüber zu kommen,“ lautete Anitas Bestellung, die mich am andern Tage in unserer Wohnung aufsuchte, wo ich mit schwerem Kopf und noch schwererem Herzen die nachgelassenen Papiere der Großmutter ordnete. Dem Vorschlag der Frau Roden gemäß sollte ich schon heute völlig zu ihr übersiedeln, und nun gab es so vieles noch zu erledigen und vieles konnte nicht eher geschehen, bis ich mit Lotte geredet.

„Die Frau Gräfin?“ fragte ich.

„Gräfin Charlotte Kaltensee, die Gemahlin Sr. Durchlaucht,“ erklärte Anita, ohne eine Miene zu verziehen.

„Ach so – meine Schwester. Sagen Sie ihr, ich würde kommen. Se. Durchlaucht ist abgereist?“

„Vor einer Stunde,“ erwiderte sie. „Die Gräfin ist trostlos.“

Anita entfernte sich. Ich räumte weiter; ich konnte es nicht über mich gewinnen, einen Blick zu den Fenstern drüben zu thun. Als es dunkelte, ging ich zu Lotte; ich kann sagen, nicht mit freundlichen Gedanken.

Anita öffnete mir und führte mich durch die spärlich erleuchtete Halle den Korridor entlang bis zu der Thür, durch die ich schon einmal getreten war, an jenem Tage, als der Prinz

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_157.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2024)