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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Bis jetzt hatte sie die Thränen herzhaft verschluckt; nun liefen ihr doch ein paar helle Tropfen über die Wangen. „Er hat’s wohl kommen sehen,“ sprach sie, „aber trotzdem –. Zuerst wollte er hinüber, er konnte es nicht fassen; nun hat er sich eingeschlossen. Ich sage auch weiter nichts jetzt, was soll Trost und Zureden in solchen Augenblicken? Aber –“ und es zuckte wieder um ihren Mund, „ich habe an der Thür gehorcht, es war als ob – doch ich habe mich wohl geirrt, es klang wie Weinen.“ Sie sah mich an, als wollte sie mich fragen, ob sie wohl recht gehört habe? „Nachher hat er David hinüber geschickt; er brachte den Ring, nicht wahr?“

Ich bejahte.

„Nun ist’s am Ende,“ sagte sie. „Wozu dies Alles erst? – Sein ganzes Herz hing an ihr –.“

Dann sprang sie auf. „Das war seine Stimme; er rief wohl nach seinem Pferde?“

Wir standen athemlos an der etwas geöffneten Thür und lauschten. Er sprach ruhig zu dem Verwalter, dem alten Müller, die Worte drangen bis zu uns hinauf: „Zeitung – Benedetti – unerhört – der Krieg ist da, eh’ man es denkt!“ – „Mir soll es recht sein,“ hörten wir den Verwalter sagen.

„Ei, großer Gott, der sitzt freilich im Trocknen,“ flüsterte die alte Frau; aber dann ward sie still, denn Fritz sprach. „Mir auch, Müller, sehr!“ – Gleich darauf tönte der Hufschlag des Pferdes zu uns herauf.

Ich eilte zurück ans Fenster. Dort ritt er, grade die Straße hinauf an unserem Hause vorüber, ruhig, aufrecht wie immer. Mit schimmernden Augen sah ihm die Mutter nach.

„Gott sei Dank!“ sagte ich, „er scheint ruhig.“

„Er scheint!“ erwiderte sie, „Sie kennen meinen Jungen nicht.“ Und nach einer Pause setzte sie hinzu: „Da fliegt die erste Botschaft von dem Bruch in die Welt hinaus,“ und sie deutete auf Anita, die beflügelten Schrittes unter den Kastanien dahin eilte. „Hui! da giebt’s etwas für die Klatschbasen, und wie wird Se. Durchlaucht sich freuen!“

„Der Prinz?“ rief ich verletzt. „Was geht es den Prinzen an?“

Da legte die alte Frau ihre Hand auf meine Schulter: „Gebe Gott, daß es nicht mit Thränen endet!“

„Aber Lotte denkt nicht an ihn,“ versicherte ich. Doch sie wandte sich um und antwortete nicht; sie drückte mir nur stumm die Hand, und als sie die Thränen sah in meinen Augen, klopfte sie mir freundlich auf die Wange. „Wir bleiben uns gut, Kindchen; – ich bin keine von denen, die ihren Groll auf unschuldige übertragen. Kommen Sie wieder, kommen Sie nur recht oft und grüßen Sie mir meine alte gute Werthern.“

„Sollte das Ernst sein mit dem Kriege?“ fragte ich.

„Wie’s Gottes Wille ist,“ erwiderte sie; „an Gutes glaube ich nicht mehr!“

Als ich heimkehrte, fand ich Lotte am Fenster der Vorderstube; sie rührte sich nicht, und ich ging an ihr vorüber zur Großmutter. Die alte Frau saß am Schreibtisch vor ihrem geöffneten Schmuckkästchen und betrachtete ein Paar köstliche Brillantohrringe.

„Das ist das Letzte,“ flüsterte sie, und die länglichen Tropfen funkelten in der zitternden Hand. „Packe sie ein, Tone, und schicke sie an ‚Friedberg und Söhne‘ unter den Linden; und da das Briefchen. Ich kann so schlecht damit fertig werden; meine Arme sind wie gelähmt.“

„Was willst Du thun, Großmutter?“ fragte ich ängstlich. Ich kannte die Ohrringe; sie waren ein Andenken aus den Tagen des Glückes und der Jugend; die alte Dame hatte sie nie ohne Thränen angeschaut. „Die schenkte mir mein Mann, als der Junge geboren ward,“ hatte sie uns oft erzählt. Der „Junge“ war mein Vater; er lag auf dem Garnisonkirchhof in Berlin – aber bis heute hatten diese Steine ihr immer und immer wieder jene Stunde zurückgezaubert, die allerschönste, da er in der Wiege schrie und dieses alte Antlitz so jung, so selig lächelnd auf Mann und Kind geblickt. „Was willst Du thun?“

„Dem Fritz Roden die Summe zurückerstatten, die er auf ihren Wunsch für den Hans geliehen –. Was geht ihn Hans an?“

„Es wird ihn verletzen,“ wandte ich ein.

„Ich kann und will keine Almosen nehmen,“ erwiderte sie stolz; „Lotte selbst bat darum.“

Ich that ihren Willen; das alte Gesicht sah so furchtbar entstellt aus. Da waren sie wieder, die Sorgen, die quälenden Sorgen! „Was wird aus Euch, aus Lotte?“ flüsterte sie. „Und dazu die Wolken, die von Frankreich herüber ziehen! Tone, komm nachher wieder, lies mir vor; der König schon in Berlin, die Stadt in ungeheurer Aufregung; der Thiers hatte zwar zum Frieden gesprochen, als ob das etwas helfen könnte! Mir ist schrecklich Angst, Tone – ich dachte doch, ich könnte ruhig sterben –. Nun, ich erlebe das Ende nicht mehr!“

„Ach, Großmutter,“ bat ich, „sprich nicht so!“ Mir fiel nichts ein; womit sollte ich sie trösten? Ich siegelte das Päckchen und wollte es, auf ihren Wunsch, selbst nach der Post tragen, dann stockte mein Fuß auf der Schwelle der Verbindungsthür – Lotte stand noch immer am Fenster, aber sie hielt ihr Tuch in der Hand und machte eine leise, grüßende Bewegung, und als meine erstaunten Blicke hinausflogen, da fiel eben der gelbe Vorhang drüben vor einer rasch zurücktretenden Gestalt zusammen.

„Lotte!“ rief ich vorwurfsvoll.

Sie wandte sich. Ein rosiges, selig lächelndes Mädchengesicht blickte mich einen Moment an, dann wurden die Züge augenblicklich ernst. „Was willst Du?“ fragte sie finster.

„Nichts!“ stieß ich hervor und eilte an ihr vorüber. Auf der Straße sagte ich mir ein „Nein!“ nach dem anderen; ein „Unmöglich!“ nach dem anderen. Ich mußte mich geirrt haben!

Am Abend blieb es dunkel im Schlosse; aber in der zehnten Stunde rollte ein Wagen rasch auf unserer Straße dahin, und in dem blassen Dämmerlicht, das der Mond trotz verhüllender Wolken gewährte, flatterte ein weißes Tuch zu unserem Fenster empor; – oder hatte ich mich wiederum getäuscht?

Ich wollte ehrlich fragen, ob ich recht gesehen heute Nachmittag und vorhin? Aber als ich unser Schlafzimmer betrat, lag sie schon im Bette, und als ich näher hinsah, schlief sie, und um ihren Mund zog sich ein Lächeln. Ich ging zur Großmutter und las ihr vor; die alte Dame ruhte in ihren Kissen, die Hände gefaltet. Ihre blassen Lippen bewegten sich leicht. „Gott gebe das Beste! Er schütze unseren König und unser Vaterland,“ sagte sie zuletzt, als ich ermüdet innehielt. „Es kommt eine große Zeit, eine gewaltige Zeit, Tone; aber, denk an mich – wir siegen, wir siegen!“

Ich sah sie fragend an. Ich hatte ganz mechanisch gelesen, meine Gedanken waren bei Lotte; wie ein leerer Schall waren die Worte von meinen Lippen gekommen. Krieg! Er wünscht sich ja Krieg, er wollte vergessen! –

Gegen Morgen kam ein heftiges Gewitter; ein furchtbarer Donnerschlag weckte Lotte und mich zu gleicher Zeit, prasselnd schlug der Regen auf die Blechplatten des Balkons und gegen die Fensterscheiben. Ich stand auf und schickte mich an, zu Großmutter zu gehen; sie hatte immer Angst beim Gewitter. Ich mußte hart an Lotte’s Bett vorüber; sie blinzelte unter den langen Wimpern hervor, und nun streckte sie die Hand aus und hielt mich an den Kleiderfalten, wie schon einmal.

„Tone, bist Du mir böse?“ Und als ich sie ernsthaft ansah, ließ sie mich los und sagte: „Ach, ihr seid Alle so anders als ich; Du bist so vernünftig, so kalt, so ewig gleich –. Hast Du schon jemals Herzklopfen gehabt, Tone? Athemloses, erstickendes Herzklopfen? Ist Dir schon jemals schwindelig gewesen vor lauter Glück und Lust?“

– „Laß mich!“ rief ich empört und gereizt. „Vielleicht versteh’ ich Dich noch einmal, jetzt vermag ich es nicht. Ich bin zu traurig, zu sorgenvoll! Und nun laß mich zu Großmama; sie war gestern so aufgeregt.“

„Ich stehe auch auf!“ rief Lotte mir nach; „ich glaube, nach dem Regen sind alle Rosen im Garten aufgesprungen.“ Das klang so frisch, so jubelnd; wie lange hatte ich sie nicht so gehört!

Die alte Frau schlief. Regungslos lag sie in den Kissen; auch jetzt noch, als ein erneuter heftiger Donner das Haus erbeben machte. Leise schlich ich mich an ihr Bette und bog mich über sie; ein seltsam ruhiges weißes Antlitz ruhte auf dem weißen Pfühl. In athemloser Angst griff ich nach der Hand – eiskalt durchschauerte es mich, und entsetzt schrie ich auf –; das war kein Schlaf!

Ich erinnere mich nicht mehr genau, was ich that und begann, ich fühlte nur Eins deutlich, wir waren nun ganz verlassen!

Lotte, die meinen Schrei gehört, kam, noch im Nachtkleide, herübergestürzt. ihre angstvollen Augen erfaßten mit einem Blick das Schreckliche. „Todt?“ fragte sie, und ein nervöser Schauer schüttelte ihren Körper.

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