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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)


„O, Du bist schrecklich!“ stöhnte ich.

„Mein Gott,“ sagte sie, „weil ich noch in der letzten Stunde den Muth habe, eine Lüge einzugestehen? Von Tag zu Tag habe ich gehofft, er würde mir im ehrlichen Zorn den Ring vor die Füße werfen; er that’s nicht. Nun muß ich den Knoten zerschneiden. Ach, ich kann es nicht länger ertragen, es ekelt mir vor der Komödie. Geh zu ihm, Tone, erzähle ihm die Wahrheit, mache mich so schlecht Du willst und kannst, aber bringe mir die Freiheit – bringe sie mir, und bald!“ Sie hatte laut gesprochen.

„Ich kann es nicht!“ erwiderte ich erschüttert. Ich dachte an seine guten treuen Augen, an sein trauriges Gesicht, und dabei wollte ich zur Thür, um sie zu schließen, damit Großmutter nichts höre.

„Aber ich kann es!“ sagte da eine bebende Stimme, und das blasse Gesicht seiner Mutter schaute mich an. Und nun trat die alte Frau in das Zimmer, in welchem ein trübes Dämmerlicht herrschte, und stand vor Lotte, die zum erstem Male in ihrem Leben das Haupt vor ihr senkte.

„Ich kann es, Charlotte,“ wiederholte sie, „und gleich soll es geschehen, aber –“

Sie hielt inne, eine Todtenstille herrschte in dem kleinen Raum. Man hörte nur das rasche Athmen der Frau, die sprechen wollte und doch nicht konnte – vor Weh. Und plötzlich wandte sie sich und ging lautlos zur Thür hinaus, durch das Nebenzimmer und die Treppe hinunter.

(Fortsetzung folgt.) 


Allotriophagie.

Plauderei über allerlei Esser und Fresser.0 Von Rudolf Kleinpaul.
II.

Man muß zwischen Pantophagie und Allotriophagie scharf unterscheiden. Die erstere beruht auf einer maßlosen Gefräßigkeit, welche nichts Festes verschmäht; die letztere auf einer krankhaften Disposition, welche einen Appetit auf Ungewöhnliches erzeugt. Dort ist charakteristisch, daß zunächst normale Kost in ungeheuren Quantitäten genossen wird; hier, daß ein gewisser Widerwille gegen gute Nahrungsmittel, dagegen ein Gelüst nach schlechten besteht. Auch in der Thierwelt fehlen die Allesfresser nicht: die Raben, die Strauße und die Haifische stellen ebenso viele Tarare, Kolniker und Kahle vor. Der Straußenmagen ist sprichwörtlich, er gleicht dem Korb eines Lumpensammlers, der alles aufnimmt: in der That hat man darin schon mehrere Kilo Werch und Lumpen, dazu kupferne Thürangeln, eiserne Schlüssel, kupferne und eiserne Nägel, Bleikugeln, Münzen, Knöpfe, Schellen, Kieselsteine und Sand gefunden. Wahrhafte Kolniker aber sind die unersättlichen Haifische, die Tiger des Oceans, die in Freiheit den Schiffen nachfolgen. Sie fressen alles Genießbare und alles Ungenießbare. Der Magen eines Weißhaies enthielt einen halben Schinken, einige Schafbeine, das Hintertheil eines Schweins, das Haupt und die Vorderbeine eines Bulldoggen, eine Menge von Pferdefleisch, ein Stück Sackleinen und einen Schiffskratzer. Andere Haie sah man die verschiedenartigsten Dinge verschlingen, welche man ihnen vom Schiffe aus zuwarf, Kleidungsstücke sogut wie Stockfisch, Zinnkannen sogut wie Speck, sie scheinen alles bewältigen zu können. Respektable Fresser! Und doch nennt man die Gelüste, welche der Allotriophagie vorausgehen, nicht „Strauße^ und nicht „Haie“, sondern „Elstern“, Picae (nach dem lateinischen pica = die Elster), und zwar wohl nicht deßhalb, weil die Elster wie der Strauß und der Haifisch alles zusammenfräße – sie ist wohl gefräßig, aber doch nicht bis zu dem erwähnten Grade sondern deßhalb, weil sie gern glänzende metallene Dinge stiehlt und versteckt, wie die Geisteskranken dergleichen auf die Seite bringen, indem sie davon naschen. Noch im vorigen Jahre starb in dem städtischen Irrenhause zu Wards Island ein gewisser August Geyer, in dessen Magen zwei silberne Theelöffel gefunden wurden. Da nun der Magen mit den silbernen Löffeln ebenso wenig machen kann wie die Elster, so ist der Vergleich recht treffend.

In diesem Sinne hat man auch solche krankhafte Gelüste, die sich nicht auf glänzendes Metall beziehen, mit dem Namen Picae belegt. Wenn bleichsüchtige Mädchen Essig trinken und Kohlen, Kreide, Schieferstifte, Kaffeebohnen essen, wenn skrophulöse Kinder Kalk und Sand, ja gewöhnliche Erde verschlucken, so nennt man das eine Pica. Und solchen Gelüsten, die immer etwas Krankhaftes haben, sind auch die Thiere, namentlich die Hausthiere unterworfen; im Jahre 1851 brachen sie, wie eine wahre Epidemie, in der Ackerbaukolonie von Lommel in Belgien aus, und seit dieser Zeit hat man diese Zustände, die in der Thierarzneikunde Malaciae genannt werden, genauer zu studiren angefangen. Eine Kuh, welche an den Zäunen leckt, Lumpen kaut, Leder, Erde, Holz, Kohlen u. dergl. aufsucht, ist nicht etwa gefräßig wie ein Haifisch, sondern leidend, was man sofort an ihrer Magerkeit, der Mattigkeit der Bewegungen und der Trockenheit der Haut bemerken kann. Mit einem Worte, die Allotriophagie ist bei Menschen und Thieren ein Krankheitssymptom, während die Pantophagie eher ein Uebermaß von Gesundheit und einen Hunger anzeigt, der in seiner Heftigkeit blind gegen zweckentsprechende Nahrungsmittel wird. Der Haifisch, der eine zinnerne Kanne hinunterwürgt, übereilt sich gleichsam – man müßte denn annehmen, daß ihm bei den großen Quantitäten wirklicher guter Nahrung auch die Aufnahme geringwerthiger Stoffe ein Bedürfniß sei.


In gewisser Weise sind wir alle sonderbare Schwärmer. Wir essen Roastbeef und Weizenbrot. Metalle essen wir, Holzfasern essen wir, Erden und Kalke essen wir, wenigstens mit darunter, ja, diese seltsamen Nahrungsmittel sind auch ein unabweisbares Bedürfniß. Was ist das Salz? Die Verbindung eines Metalls und einer Luftart. Was enthält der Salat und eine Schüssel Spinat? Die unverdauliche Holzfaser oder Cellulose. Asche, nach welcher die Allotriophagen bisweilen heftig verlangen, ist allen animalischen und vegetabilischen Speisen und Getränken beigemischt. Alle diese fremdartigen Substanzen dienen theils wirklich zur Ernährung, indem sie verdaut und zum Aufbau des Körpers verwendet werden; theils dienen sie nur zur Füllung des Magens und gleichsam zur Folie der eigentlichen Nahrungsstoffe. Die Schalen der Körner und Hülsenfrüchte sind ganz unverdaulich, und ebenso durchwandern Salatblätter und grüne Gemüse den Darmkanal völlig unverändert und haben weiter keinen Nutzen, als die wirklich verdaulichen Substanzen in lockerer Form zu erhalten. Dieser Nutzen ist aber sehr groß, denn wir könnten ohne dergleichen Allotria kaum leben: wie der atmosphärischen Luft Stickstoff beigemischt sein muß, um die Wirkung des Sauerstoffs zu dämpfen, so braucht der Körper außer der eigentlichen Ladung eine Art von Ballast, der an sich keinerlei Werth besitzt. Andere Male halten wir es wenigstens für kein Unglück, wenn wir mit den Nahrungsmitteln Dinge genießen, die wir nicht brauchen können, wenn wir z. B. mit einer Kirsche den Kern, in einem Bissen Wildbrett ein Schrotkorn hinunterschlucken. Und so könnte man denken, daß auch die Kolniker und die Kahle bei ihren athletischen Mahlzeiten ein paar Scherben und ein paar Steine nicht beachten, oft geradezu bedürfen.

Wer hätte nie beobachtet, daß die Hühner und die Tauben von Zeit zu Zeit sandige und steinige Konkremente aufpicken? Sie dienen ihnen, die keine Zähne haben, vermuthlich dazu, die Wirkungen des in ihrem Magen befindlichen Quetschapparates zu verstärken. Und ebenso nimmt der Karpfen, wenn er den Schlamm nach Kerbthieren und Gewürm durchwühlt, erdige Bestandtheile mit auf, ja, diese scheinen für seine Verdauung nothwendige Bedingung zu sein. In den Zuchtteichen pflegt man ihn mit Schafmist zu füttern, doch lockt man dadurch wohl bloß das kleine Gethier herbei, freilich verschluckt der Karpfen den Mist mit. Endlich steht fest, daß gelegentlich auch die Wölfe, die Renthiere und die Rehe Thon oder zerreiblichen Speckstein fressen und daß man solche Erden als Lockspeise und Witterung gebraucht.

Ja, bekanntlich haben auch Millionen Menschen ein Bedürfniß, in kürzeren oder längeren Perioden Erde zu essen, ohne daß man dieses Bedürfniß als ein krankhaftes Gelüst anzusehen berechtigt wäre. Die Arbeiter in den Sandsteingruben des Kyffhäuserberges streichen einen feinen Thon, die sogenannte Steinbutter, auf ihr Brot; bei Franzensbad in Böhmen, in Ebsdorf bei Lüneburg, im

nördlichen Schweden hat man das sogenannte Bergmehl, eine feine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_127.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2024)