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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Nun, und wie mich Werin behandelt hat,“ fuhr Schlagododro fort, „das hast Du ja selbst gesehen. Ich bin wirklich unmenschlich höflich zu ihm gewesen, um des Onkels willen, der mich darum gebeten hatte, und weil mir der arme Teufel leid that, der immer allein umherirrte, eine Seele, die Charon am andern Ufer vergessen hat. Nun, ich will ihn in seinem Vergnügen nicht stören. Wenn’s ihm Spaß macht, zwischen uns umherzusteigen wie der Storch im Salat, mich geniert es nicht. Und Dir, Kind, wenn ich Dir rathen darf, bleibe ihm aus dem Wege. Der Storch hat einen langen Schnabel und schluckt den Frosch über, ehe der arme Kerl es merkt.“

Es waren nämlich bereits wieder mehrere Tage vergangen, ohne daß ich den versprochenen Besuch gemacht hätte, aber Schlagododro, obgleich ich mich hütete, ein Wort davon verlauten zu lassen, mochte mit dem eifersüchtigen Gemüth eines liebenden Freundes meine Absicht ahnen. Kam ich mir doch selbst wie ein Verräther vor, als ich endlich am nächsten Sonnabend, dem letzten Tage, welchen ich mir gestellt hatte, gegen Abend, nachdem ich mich von Schlagododro unter irgend einem Vorwande frei gemacht, den Weg nach der nahen Fährstraße einschlug. Es umwitterte mich etwas wie die Ahnung, daß ich im Begriff stand, das Fahrzeug meines Schicksals in eine andere Bahn zu lenken. Als ob wir lenken könnten, wo wir doch nur einfach getrieben werden von einer unwiderstehlichen Gewalt, die wir vergeblich außer uns suchen, da sie doch nirgends wohnt, als in den unerforschbaren Tiefen des eigenen Gemüths!

Jene Kinder, welche Tag und Nacht auf der Fährstraße zu spielen schienen, glotzten mich, als ich an ihnen vorüberging, mit frechen Augen verwundert an und brachen in ein Geheul aus, indem ich nun nach dem Häuschen abbog, das mir von Adalbert bezeichnet worden war. Offenbar hatten sie mich auf eben dies Haus taxirt und gaben nun ihrer Befriedigung über die Richtigkeit ihrer Konjektur diesen lärmenden Ausdruck. Mit denselben Zeichen der Theilnahme (denn sie waren mir auf dem Fuße gefolgt und standen jetzt, zu einem Rudel geballt, hinter mir in allerdings respektvoller Entfernung) begleiteten sie mein Schellen an der Thür, das leider mehrmals vergeblich war, bis endlich geöffnet wurde, und ich meinen Plagegeistern entrinnen konnte.

Die mir geöffnet hatte, war ein junges Mädchen, etwa in meinem Alter und unverkennbar Adalbert’s Schwester: dieselbe überschlanke Gestalt, derselbe feine schmale Kopf, dasselbe nur ins Weibliche übersetzte Gesicht mit den reinen, strengen Zügen, den wie mit einem scharfen Pinsel gezogenen Brauen über den grauen klaren Augen und den feingeränderten Lippen des kleinen, fest geschlossenen Munden. Sie war offenbar auf mein Erscheinen vorbereitet, hatte mich auch wohl über die Straße kommen sehen, denn sie begrüßte mich sofort mit meinem Namen, sagte mir, daß Adalbert ausgegangen sei, aber sehr bald heimkehren werde, und bat mich, inzwischen in das Wohnzimmer zu treten, wo ich auch die Mutter finden würde, die sich freue, mich kennen zu lernen.

Sie hatte das alles sehr ruhig mit einer Stimme gesagt, die eigentlich sanft war und mir doch unfreundlich vorkam, vielleicht nur deßhalb, weil, während sie sprach, auch nicht der leiseste Schimmer eines Lächelns das ernste Gesichtchen erhellt hatte. Inzwischen hatte sie mich bereits in das Zimmer geführt, und ich stand einer hochgewachsenen Dame gegenüber, welche sich eben von einem mit Büchern und Papieren bedeckten und von voluminösen Aktenbündeln umgebenen Schreibtisch in der Tiefe des Zimmers erhoben zu haben schien; wenigstens hielt sie noch die Feder in der Hand. Ich bat um Entschuldigung, wenn ich gestört habe.

„Mich stört man immer oder niemals, wie Sie wollen,“ antwortete die Matrone; „denn ich arbeite beständig, so kann man mich eben nur in der Arbeit unterbrechen. Und diesmal war mir die Unterbrechung willkommen. Ich war in meinem Exposé an einen Punkt gelangt, welcher eine besonders scharfe Distinktion der einschlägigen politischen Verhältnisse erfordert. Der betreffende Herr, an welchen mein Schreiben adressirt ist - es ist nicht nöthig, seinen Namen zu nennen – gilt allerdings für einen scharfsinnigen Kopf, und ich habe meine letzte Hoffnung auf ihn gesetzt, indessen in Dingen der hohen Politik –“

„Aber, Mama –“ sagte die junge Dame.

„Du hast Recht," unterbrach sich Frau von Werin; „es ist unfreundlich und unschicklich. Ich werde mich dafür in Strafe nehmen, indem ich Euch jetzt verlasse und draußen für ein kleines Abendbrot sorge, an welchem unser junger Gast hoffentlich theilnehmen wird, und das fertig sein muß, bis Adalbert zurück ist. Du weißt, Maria, er liebt es nicht, wenn in seiner Gegenwart häusliche Vorrichtungen getroffen werden.“

Sie hatte bei den letzten Worten gelächelt, zwar nur flüchtig, aber ich war ihr doch sehr dankbar dafür gewesen: der ernste Ton, in welchem hier alles abgehandelt zu werden schien, hatte bereits angefangen, auf mein helleres Gemüth zu drücken.

Maria schien es bemerkt zu haben, denn sie sagte, als die Mutter das Zimmer verlassen und wir uns an eines der niedrigen, mit allerlei Blumen dicht bestellten Fenster gesetzt hatten:

„Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, daß Sie nun endlich doch gekommen sind. Um Adalbert’s willen freilich ist es mir sehr lieb: er ist so viel allein, das thut ihm nicht gut, und gerade auf Sie hält er große Stücke; er hat mir über Sie ein Wort gesagt, das in seinem Munde die höchste Ehre ist. Aber man darf nicht bloß an sich denken, und ich fürchte, Ihnen wird es bei uns nicht gefallen.“

„O, ganz gewiß!“ sagte ich sehr eifrig.

Sie sah mich mit den klaren grauen Augen prüfend an und ihre Oberlippe zuckte kaum merklich, als ob sie lächeln wollte; aber sie that es nicht, sondern fuhr fort:

„Es wäre ja so begreiflich, wenn es Ihnen bei uns nicht gefiele. Wir sind eine freudlose Familie. Sie haben von dem schweren Unglück gehört, das uns betroffen hat?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Ich dachte es mir,“ sagte sie, „und deßhalb möchte ich Sie davon unterrichten – aus einem sehr egoistischen Grunde. Ich meine nämlich, wenn ich Ihnen ehrlich und offen auf einmal die Wahrheit sage, so wird das einen besseren Eindruck auf Sie machen, als wenn Sie selbst nach und nach dahinterkommem. Nicht wahr, das heißt, mit der Thür ins Haus fallen?“

Wieder zuckte es kaum merklich in ihrer Oberlippe. In diesem Gesicht war etwas, das anders war, als bei den übrigen Menschen. Was aber konnte das sein?

Die klaren grauen Augen mußten in meiner Seele Tiefe lesen. Sie sagte:

„Damit Sie sich nicht zum dritten Male wundern und um mit dem Geringsten anzufangen: ich kann nicht lachen.“

„Sie können –“

„Nicht lachen und nicht einmal lächeln,“ wiederholte sie, – und jetzt hörte ich deutlich einen schmerzlichen Ton in ihrer sonst so gleichmäßig ruhigen Stimme anklingen, – „seit dem Tode Papas. Es hat mich da in dem großen Schrecken eine Art Schlaganfall getroffen. Die Aerzte sagen, das sei etwas sehr Merkwürdiges bei meinen jungen Jahren, und auch, daß nichts weiter davon zurückgeblieben ist, als eine beiderseitige Lähmung des nervus facialis. Mir ist es besser ergangen, als der Mama. Was brauche ich lachen zu können? Ich habe so wenig Veranlassung dazu! Mama kann noch lachen, wenigstens äußerlich. Aber in ihrem Herzen ist kein Lachen; in ihrem Herzen –“

Sie strich sich mit der Hand über die Stirn und mir war, als ob sie einen Blick nach der Thür des anderen Zimmers werfe, in welchem ich die Mutter kramen hörte. Dann ruhten die klaren Augen wieder fest auf mir.

„Ja so,“ sagte sie, „das können Sie ja gar nicht verstehen. und verzeihen Sie, wenn ich es mit den wenigsten Worten sage: der Vater war Officier, mußte den Abschied nehmen, wurde im Steuerfach beschäftigt, von dem er nichts verstand, gerieth in große Ungelegenheiten, wurde disciplinarisch seines Amtes enthoben und hat sich vor zwei iahren aus Gram erschossen.“

„O mein Gott!“ rief ich.

„Nicht wahr,“ sagte sie, „das ist furchtbar; aber auch Mama hat, wie ich, nach Papas Tode eine schwere Krankheit durchzumachen gehabt – ein Gehirnfieber, und seitdem ist sie - wissen Sie, was eine fixe Idee, eine Monomanie ist?“

Ich starrte sie erschrocken an.

„Ich wußte es nicht,“ fuhr sie ruhig fort. „Ich hörte es zufällig von einem der Aerzte; ich sollte es nicht hören.

Dann habe ich mir Bücher verschafft und darüber nachgelesen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_119.jpg&oldid=- (Version vom 1.2.2024)