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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

starrte und seine mächtigen Glieder ebenso höchst unköniglich durch einander schlenkerten. Auch war ihm die Drohung, „Den oder Jenen todtzuschlagen“, sehr geläufig, wobei es dann aber sein Bewenden hatte, trotzdem er leicht zu einem Berserkerzorn gereizt werden konnte. Sich an einem Schwächeren zu vergreifen, wäre seiner Großmuth unmöglich gewesen – ich könnte ebenso gut silberne Löffel stehlen, sagte er – und einen ihm an Kraft Ebenbürtigen oder gar Ueberlegenen gab es in der Prima nicht. Mußte doch selbst mein Freund Fritz Brinkmann, Vollmatrose, wie er jetzt war, nachdem ihn Schlagododro, mit dem er sich im Scherze zu messen versuchte, auf dem Walle hinter dem Garten in das Gras platt auf den Rücken geworfen „wie einen Flunder“, sich die strammen zerschlagenen Glieder reibend, eingestehen, „daß ihm so was noch nicht vorgekommen“.

Es verging jetzt aber kaum ein Tag, daß Schlagododro nicht in das kleine Haus in der Hafengasse gestürmt wäre, welches ihm, wie er mir selbst später sagte, eine neue Welt erschlossen hatte. Ich höre ihn noch das erste Mal die enge wurmstichige Treppe zu meinem Dachstübchen heraufpoltern und an die Thür donnern, wie der schwarze Ritter mit der Streitaxt an das Thor von Front de Boeuf’s Burg. Und sehe ihn eintreten mit den rollenden verwunderten Augen, die zuerst prüfend nach der Decke fuhren, an die denn freilich die blonde Mähne beinahe streifte. Und wie er sich auf den Stuhl setzte, den ich ihm angeboten, in offenbarer Sorge, ob das wackelige Ding nicht unter ihm zusammenbrechen würde, und wie die rollenden Augen sich dann in aller Stille weiter wunderten. Denn er war viel zu zartfühlend, sich über die Aermlichkeit von Verhältnissen, in die er so zum ersten Male gerathen war, eine Bemerkung zu erlauben. Im Gegentheil: er fand Alles „famos“: mein Zimmerchen, die Ausstattung, das viereckige Fenster mit den vergilbten Scheiben, den halbvertrockneten Kornelkirschbaum vor dem Fenster, den stillen feuchten Hof, über den ich ihn dann durch das Gärtchen oben auf den Wall führte, ihm von dort die Welt meiner Knabenjahre und ihre Herrlichkeit zu zeigen. Sie erschien mir nun, da ich sie gleichsam durch die Augen meines neuen Freundes sah, gar nicht so herrlich. Der Wall kam mir ungewöhnlich niedrig vor und ich ärgerte mich sehr über die Hopp’sche Wäsche, die nachbarlich von den Leinen flatterte und uns die Aussicht auf den Hafen benahm. Dazu war schon seit Tagen Ostwind und in Folge dessen der Vorstrand unter dem Walle ein schwarzer, mit Topfscherben, zerbrochenen Flaschen, Korkstöpseln und dergleichen übersäeter Morast, der Kirchhof nebenbei von unterschiedlichen großen und kleinen Fischen und ein oder zwei ertränkten Katzen. Schlagododro aber fand Alles „famos“, besonders Hopp’s Christine, welche in Begleitung ihrer Mutter und einiger Mägde – alle in sehr zweifelhaften Kostümen – zwischen den Wäscheleinen wirthschaftete und, so weit es die Entfernung irgend zuließ, mit dem blonden Hünen frei und fröhlich zu kokettiren versuchte.

Dann mußte ich ihn zu dem Vater in die Werkstatt führen, wo dann wiederum seine blauen Augen etwas zu rollen bekamen, während er, auf einem Haufen frisch geschnittener Bretter sitzend, sich so bescheiden und verständig mit dem Vater über dessen Handwerk unterhielt, als ob er demnächst in dasselbe eintreten wolle.

„Dein Vater ist famos,“ sagte er nachdenklich, als wir wieder über den Hof nach meinem Zimmer zurückgingen; „aber wo ist denn Deine Mutter?“

Der Zufall wollte, daß wir ihr am Fuße der Treppe begegneten in Begleitung des Geistlichen, der sie zu irgend einem barmherzigen Besuche, wie sie deren häufig machte, abgeholt zu haben schien. Wenigstens trug sie ein mit einer Serviette zugedecktes Körbchen am Arm. Sie war wie immer ganz schwarz gekleidet bis auf das schmale weiße Krägelchen um den Hals; der obere Theil des Gesichts war mit einem schwarzen Spitzenschleier bedeckt. Dennoch war, als sie so, ohne sich aufzuhalten, mit flüchtig kühlem Gruße an uns vorüberschritt, von ihrem süßen Gesicht genug zu sehen gewesen, um die rollenden Augen meines Gefährten vor Verwunderung starr zu machen. Diese wunderschöne, trotz ihrer klösterlichen Einfachheit elegante Dame, die bei der Begegnung kein Wort, kaum einen Blick für mich hatte, war meine Mutter! Der herzige Kahlkopf mit dem zerzausten grauen Barte in Hemdsärmeln, ausgetretenen Schuhen und der defekten, einst grün gewesenen Schürze da hinten in der dunklen Werkstatt war mein Vater! – wie reimte sich das? Ich sah die Frage wohl auf seinem Gesichte und hörte sie aus der Schweigsamkeit, in welcher er während der übrigen Zeit dieses ersten Besuches verharrte – ich konnte sie ihm jetzt noch nicht beantworten.

Ich konnte es später, als wir vertrauter geworden waren und er mit dem sicheren Takte seines Herzens das Eis der Zurückhaltung gebrochen hatte, indem er mir unaufgefordert über die Vogtriz’schen Familienverhältnisse in seiner ungenirten Weise reichliche Auskunft gab.

„Siehst Du, Kind,“ sagte er – er hatte mich so vom Vater nennen hören und der Ausdruck gefiel ihm, daß er ihn sofort adoptirte – „was wir Vogtriz sind, so haben wir uns auf allen Schlachtfeldern herumgehauen, so lange die Welt steht. Denn so alt sind wir wenigstens, wenn nicht noch ein bischen älter. Viel Geld und Gut scheinen wir nie gehabt zu haben; jedenfalls niemals auf lange Zeit: ,Vogtriz, Mutterwitz, aber keinen Vätersitz’ – ist ein Wort über uns schon aus dem vierzehnten Jahrhundert. Na, das mit dem Mutterwitz will ich auf sich beruhen lassen: man mag damals wohl nicht viel Ansprüche nach dieser Seite gemacht haben. Mit dem ,keinen Vätersitz’ hat es aber seine Richtigkeit bis auf den heutigen Tag, denn Nonnendorf, wo wir wohnen, kommt von meiner Mutter, der ich schon viel von Dir geschrieben habe und die sich darauf freut, Dich in den großen Ferien kennen zu lernen. Na, darüber sprechen wir noch. Also: Geld und Gut hatte der Vogtriz von jeher verzweifelt wenig, brauchte aber desto mehr und mußte deßhalb wohl oder übel anderen Herren, die besser zu wirthschaften verstanden, als er, Heerfolge leisten. Zumal den Hohenzollern, die uns darin und in vielen anderen Dingen entschieden über waren. Du weißt ja: Gefolgschaft – uralte germanische Sache, darauf beruhend, daß der Fürst oder König die Mannen an seinem Hochsitz schmausen und zechen läßt und ihnen rothes Gold in Form von Bechern, Armspangen etc. schenkt, wofür denn der Manne sich für den König todt schlagen läßt, respektive andere Leute todt schlägt und es für die größte Schande erachtet, den gütigen Herrn im Kampfe zu überleben. Nun, wie viel Leute die Vogtriz schon für die Hohenzollern todt geschlagen haben, oder wie viel von ihnen bei diesen Gelegenheiten selber todtgeschlagen sind, weiß ich freilich nicht, es müßte aber auf beiden Seiten eine bös lange Liste geben. Kann ein Vogtriz seinen bedrängten Verhältnissen durch eine reiche Heirath aufhelfen, so hat er principiell und praktisch nichts dagegen, wie zum Beispiel mein Vater und ein Großonkel von mir, der hier nicht gut that und in Amerika eine Millionärstochter heirathete, aber die Unvorsichtigkeit beging, bald darauf zu sterben, so daß es mit dem ,Onkel aus Amerika’ für uns leider nichts ist. Manchmal geht auch Einer, der sich von dem traditionellen Mutterwitz eine größere Portion zutraut, in den Civildienst; wie zum Beispiel mein Onkel, der Geheimrath in Berlin, und dessen Söhne, die Jura studiren; oder ich, der ich merkwürdiger Weise auch studiren will. Im Allgemeinen aber sind wir Soldaten, wie der Onkel und wie auch mein Vater, bevor er heirathete, und so ein Paar Schock Onkel und Vettern durch die ganze Armee. Uebrigens muß mit dem Vogtriz’schen Blut irgend einmal eine gründliche Mischung stattgefundcn haben, die durch die Jahrhunderte vorgehalten hat: die Einen sind schwarz und schön, wie mein Onkel, den Du ja kennst, und mein Bruder, oder, blond und dann häßlich, wie mein Vater und meine Wenigkeit. Das heißt: meine Kousine, Onkel Egbert’s Tochter hier, muß ich ausnehmen, bei Gott! Es wäre Verrath, die häßlich zu nennen; aber sie ist allerdings auch nicht in der gewöhnlichen Vogtriz’schen impertinenten Weise blond, sondern in einer ganz besonderen, die eigentlich braunroth oder goldig braun ist – tizianisch, glaube ich – nennen sie’s – und dazu hat sie sammetbraune Augen, mit denen sie Einen ansehen kann, daß man ganz wirr im Kopfe davon wird. Ich wundere mich nur, daß Du sie noch nicht gesehen hast, aber freilich – na, Du wirst sie ja kennen lernen, wenn Du in den Hundstagsferien mit mir nach Nonnendorf kommst.“

Dieser mein Besuch auf seinem väterlichen Gute war für Schlagododro eine abgemachte Sache, ebenso wie ich entschlossen, war, nicht hinzugehen, trotzdem ich höflicher Weise zugesagt hatte. Die Möglichkeit, dort seinem Bruder Astolf zu begegnen, hatte für mich gerade nichts Verlockendes, und wie lieb ich auch bereits Schlagododro gewonnen und mit jedem Tage mehr schätzen und lieben lernte, so viel war mir doch bereits klar, daß in unseren

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