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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Gefährten anstellte, schien das zu bestätigen: ein peinlich sauberer, aber auch ebenso dürftiger und augenscheinlich von einer wenig geschickten Hand, vermuthlich zu Hause gefertigter Anzug, der etwa noch zu der nachlässigen Haltung der lang aufgeschossenen hageren Gestalt, aber gar nicht zu dem vornehm spöttischen Ausdruck des feinen blassen Gesichtes stimmte. Und dieser Ausdruck trat noch deutlicher hervor, als er jetzt, nachdem wir uns so weit gefunden, plötzlich fragte:

„Du schienst ja sehr erbaut von all’ den schönen Dingen, die uns der Herr Professor aufgetischt hat?“

„Ja,“ sagte ich erstaunt; „es scheint, Du nicht?“

„Nein, ganz und gar nicht.“

„Und warum nicht?“

„Das ist nicht so einfach. Ich will versuchen, es in dem Aufsatz zusammenzubringen, vorausgesetzt, ich komme nicht, wie ich vermuthe, vorher zu der Einsicht, daß ich besser thue, meine Weisheit für mich zu behalten.“

„Ich möchte gern ein Stück davon hören.“

„Glaub’ ich Dir. Vielleicht wenn wir einmal näher mit einander bekannt sind. Vorläufig meine ich, Du hättest den besten Kommentar zu des Professors Friedens- und Eintrachtspredigt an dem erbaulichen Spektakulo vor der Stunde.“

„Was hat das mit der ,Glocke‘ zu thun?“

„Es ist eben ein Kommentar. Wie heißt es doch gleich:

,Dem Schicksal leihe sie die Zunge;
Selbst herzlos, ohne Mitgefühl,
Begleite sie mit ihrem Schwunge
Des Lebens wechselvolles Spiel.‘

Nun, und das Schicksal von langnasigen Judenjungen ist, daß sie von hochnasigen adligen Jungen geprügelt werden und daß, um etwas Abwechselung in das Spiel zu bringen, ein braver Bürgerssohn – Du sagtest, Dein Vater sei Tischler – sich für den Juden mit den Adligen rauft, damit zuguterletzt der Jude beiden, Adligen und Bürgerlichen, die Haut über die Ohren zieht. Und da die Glocke eingestandenermaßen ,selbst herzlos‘ ist, so kann sie ja auch ,ohne Mitgefühl‘ die saubere Bescheerung mit ansehen oder gefälligst ,mit dem Schwunge‘ begleiten.“

„Wenn Du es so nimmst,“ sagte ich, „aber so ist es eben nicht zu nehmen. Einmal ist das ,Schicksal‘, wie wir vom Professor gehört haben, eine Idee, welche Schiller aus der griechischen Weltanschauung in seinen idealen Humanismus hinüber genommen hat, und auf die wir deßhalb nicht allzu viel Gewicht legen dürfen. Und zweitens, wenn das Schicksal oder das Los des Menschen hart ist und Kampf und Zwietracht unter ihnen herrscht, so ist es ja eben die Aufgabe des Idealismus und Humanismus, diese Gegensätze zu mildern, auszugleichen und uns durch die Schönheit zur Freiheit, das heißt zur Einigkeit und Brüderlichkeit zu führen.“

Er war stehen geblieben und blickte mich mit seinem spöttischen Lächeln an:

„Der Tausend! hast Du ein famoses Gedächtniß! gratulire zu der Nummer Eins unter dem Aufsatze! Den bekannten ,ewig Blinden‘ läßt Du aus der schönen Geschichte wohl besser weg? Du weißt, der verdammte Kerl versteht keinen Spaß und hat eine verzweifelte Neigung, mit des Lichtes Himmelsfackel auf Erden etwas unvorsichtig umzugehen, was ihm, in Anbetracht, daß sie ihm nicht strahlt, auch weiter nicht groß zu verdenken ist. Das sind arge Ketzereien, nicht wahr? Vielleicht denkst Du etwas anders darüber, wenn Du so alt bist wie ich.“

Wir schritten schweigend neben einander hin. Ich war nichts weniger als überzeugt, aber es war doch eine Saite in meiner Seele berührt, die von den krausen Reden des seltsamen Genossen wiederklang. Ich weiß nicht, weßhalb mir plötzlich das Bild einfiel von des Vaters Aeltervater, den sie auf einen Hirsch gebunden hatten. Mit fast scheuem Blicke betrachtete ich meinen seltsamen Gefährten, der, ohne für die ihm doch neue Scenerie der Straßen die mindeste Aufmerksamkeit zu zeigen, neben mir herschlenderte.

„Wie alt bist Du?“ fragte ich.

„Achtzehn,“ erwiderte er. „Ich war als Kind viel krank, das hat mich zurückgebracht. Auch habe ich mich erst jetzt entschieden, daß ich studiren will. Vorher sollte ich Soldat werden; bin auch schon ein paar Jahre auf einer Kadettenschule gewesen.“

Wir waren an der Ecke seiner Straße angekommen. Er deutete auf ein Haus linker Hand und sagte:

„Da, in der Spelunke, wohnen wir, Vielleicht besuchst Du mich einmal, wenn Du Zeit hast. Meine Mutter ist ein wenig wunderlich, was ich Dir sagen zu müssen glaube, damit Du an manchen Reden, die sie führt, keinen Anstoß nimmst. Uebrigens sehr gescheidt. Von meiner Schwester sage ich nichts: sie wird Dir schon gefallen. Und, welin ich mich nicht irre, Du ihr auch. Wirst Du kommen?“

Ich versprach es. Er nickte mir zu und schlenderte die Straße hinauf. Ein paar kleine Jungen balgten sich schreiend und heulend in seinem Wege. Er ging um sie herum, aber ohne auch nur nach ihnen hinzublicken, und trat in das bezeichnete Haus, das nicht gerade eine Spelunke, wie er sagte, aber gewiß auch keine Wohnung war, wie sie sich nach meinen Begriffen für eine adlige Familie zu schicken schien.


2.

Ich war während der letzten Wochen selten in das Israel’sche Haus gekommen. Meine Einsegnungshändel, dann die Vorbereitungen zu dem Examen, das ich ehrenhalber glänzend absolviren mußte, hatten mir wenig Zeit übrig gelassen, und dieses Wenige hatte ich darauf verwandt, Freund Emil „einzupauken“. Es war das eine harte Arbeit gewesen, und mehr als einmal hatte ich es schier aufgegeben, dem guten Jungen, der doch mit den grausamsten Logarithmen Fangball spielte, die Geheimnisse des Accusativ cum Infinitiv jemals beizubringen. Auch heute hatte er mir durch einen haarsträubenden Optativ, den er in der Homerstunde verbrochen, die Schamröthe in die Wangen getrieben; dazu der Streit, in welchen er mich in der Zwischenpause verwickelt, und der meine ohnehin schwierige Stellung in der Schule nur noch mehr gefährdete, ohne daß er, um dessenwillen ich mich so ausgesetzt, das kleinste Dankeswort für mich gehabt hätte – mit einem Worte: ich war böse auf ihn, und gerade deßhalb ging ich gegen Abend hinüber, ihm meine Meinung zu sagen.

ich fand Jettchen allein in dem dämmerigen Wohnzimmer, in welchem mir heute das koncentrirte Parfum der vier Getreidearten auf dem Boden ausgesprochener schien, als je zuvor. Sie kam mir mit ihrer gewohnten Taubenschüchternheit entgegen und reichte mir die kleine magere Hand mit niedergeschlagenen Augen, denen ich sofort ansah, daß sie geweint hatten.

„was giebt es, Jettchen?“ fragte ich. „Der unglückliche Emil hat doch nicht gar –“

„Ja, es ist Emil’s wegen,“ sagte sie schnell. „Ich freue mich, daß Du gekommen bist; ich wollte so gern mit Dir darüber reden. Wir sind für den Augenblick ganz allein.“

Wir hatten uns in das Fenster hinter die mit grüner Gaze bespannten Rahmen gesetzt, durch welche ein abscheuliches Licht auf das Gesichtchen mit den rothgeweinten Augen mir gegenüber fiel. Die Dame meiner Ritterthaten kam mir zum ersten Male entschieden häßlich vor. Ich war in der übelsten Laune, die ich höchst unritterlich an dem schuldlosen Mädchen ausließ. Es sei erbärmlich vom Emil, so aus der Schule zu schwatzen und seine Leute zu Hause mit dergleichen Albernheiten zu behelligen. Wenn das noch einmal vorkomme, würde ich meine Hand von ihm ziehen und ihn seinem Schicksal überlassen.

„Du wirst Dich von jetzt nicht mehr so mit ihm zu quälen brauchen,“ sagte das arme, durch meine Heftigkeit vollends verschüchterte Kind. „Emil soll von der Schule abgehen.“

„Wie?“ rief ich erstaunt.

Sie horchte ängstlich hin, ob sich im Hause oder an der Hausthür etwas rege, und fuhr mit leiser, hastiger Stimme fort:

„Es ist nicht recht, aber Dir muß ich es sagen. Vater war schon vorher entschieden, daß Emil nur noch nach Prima kommen solle, um Einjähriger werden zu können, weißt Du. Aber Doktor Lewin, unser neuer Arzt, weißt Du, hat dem Vater versichert, es sei ganz unmöglich; Emil müsse zurückgewiesen werden, schon seiner Augen wegen, er übernehme die Garantie dafür. So wäre auch das garstige Examen unnöthig gewesen – ich meine garstig für Dich, denn Du hast Dich ja so mit ihm plagen müssen – aber Vater bestand darauf, er solle wenigstens einen Tag in Prima gesessen haben.“

„Nun,“ sagte ich, „das kommt mir freilich unerwartet, aber schlimm ist das doch nicht. Warum hast Du denn darüber geweint?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_095.jpg&oldid=- (Version vom 19.1.2024)