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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

angegriffen zu werden. Die Jungen aber, schon von Weitem als weiße Ballen ersichtlich, ducken sich ängstlich nieder und verharren bei Annäherung des, wenn nicht erkannten, so doch geahnten Feindes so regungslos in der gewählten oder sonstwie vielleicht durch Umfallen angenommenen Stellung, daß man sie zeichnen kann, ohne fürchten zu müssen, sie würden durch eine einzige Bewegung stören: – ein reizendes Bild!

Manche Thiere noch könnte ich aufzählen, erschienen sie mir nothwendig zur Kennzeichnung der Tundra. Bezeichnend für letztere ist aber vor Allem eines: die Mücke. Wer sie als das bedeutsamste aller Lebewesen der Tundra bezeichnet, dürfte kaum des Irrthums geziehen werden können. Sie ermöglicht nicht wenigen höheren Thieren, insbesondere Vögeln und Fischen, zu leben; sie zwingt andere, wie den Menschen, zeitweilig zu wandern; sie ist die alleinige Ursache, daß die Tundra im Sommer für gesittete Menschen unbewohnbar wird. Ihr Auftreten übersteigt alle Begriffe, ihre Macht besiegt Mensch und Thier; die durch sie verursachte Qual spottet jeder Beschreibung.

Es ist bekannt, daß die Eier aller Stechmücken in das Wasser gelegt werden, und daß die binnen wenigen Tagen jenen entkriechenden Larven bis zu ihrer Verwandlung im Wasser leben. Hieraus erklärt sich, daß die Tundra mehr als jedes andere Gebiet ihre Entwickelung, ihr massenhaftes Auftreten begünstigt. Sobald die wiederum aufsteigende Sonne Schnee, Eis und die oberste Kruste der Erde ab- und aufgethaut hat, regt sich das im Winter wohl gebundene, nicht aber vernichtete Leben der Mücken. Den im vereisten Schlamme bewahrten, nicht aber zerstörten Eiern entschlüpfen Larven; sie wandeln sich binnen wenigen Tagen zu Puppen, die Puppen zu geflügelten Kerfen, und Geschlechter folgen in kürzesten Fristen Geschlechtern. Noch vor der Hochsommerwende beginnt, und bis zur Mitte des August währt die Schwarmzeit der fürchterlichen Thiere. Während dieser ganzen Zeit sind sie zur Stelle, vorhanden in der Höhe wie in der Tiefe, auf den Bergen oder Hügeln wie in den Thälern, zwischen dem Zwergbirken- oder Wollweidengestrüpp wie an den Ufern der Flüsse oder Seen. Jeder Grasstengel, jeder Mooshalm, jeder Zweig, jeder Ast, jedes Blättchen entsendet zu jeder Tageszeit Hunderte, Tausende von ihnen. Die Stechmücken oder Musquitos der Gleicheländer, der Urwaldungen und Sümpfe Südamerikas, Mittelafrikas, Indiens, der Sunda-Inseln, gefürchtet von allen Reisenden, aber nicht schlimmer als unsere Thiere, schwärmen nur bei Nacht: die Mücken der Tundra fliegen zehn Wochen lang und sechs Wochen hindurch thatsächlich so gut als ununterbrochen. Sie bilden Schwärme, welche aussehen wie dichter schwärzlicher Rauch; sie hüllen jedes Geschöpf, welches sich in ihr Bereich wagt, in Nebel ein; sie erfüllen die Luft in solcher Menge, daß man kaum zu athmen wagt; sie vereiteln jede Anstrengung, sie zu vertreiben; sie wandeln den thatkräftigsten Mann zum willenlosen Schwächling, den Grimm desselben zur Furcht, den ihnen geltenden Fluch zur stöhnenden Klage.

Die Stechmücke und ihre Verwandlung.
Originalzeichnung von Emil Schmidt.
a Larve. b Puppen. c Ausschlüpfende Mücke. d Eierlegendes Weibchen. e Männchen.

Sobald man die Tundra betritt, tönt einem ihr Summen entgegen, vergleichbar bald dem Singen des Theekessels, bald wiederum dem Klingen eines schwingenden Metallstäbchens, und wenige Augenblicke später ist man umringt von Tausenden und Abertausenden. Ein von ihnen gebildeter oder aus ihnen bestehender Strahlenkranz umschwärmt Haupt und Schultern, Leib und Glieder, folgt, so schnell man sich auch bewege, und ist durch kein Mittel zu vertreiben. Bleibt man stehen, so verdichtet er sich; geht man fürder, so zieht er sich in die Länge; läuft man, so schnell man vermag, so dehnt er sich zu einer langen Schleppe aus, ohne jedoch zurückzubleiben. Weht ein mäßiger Wind entgegen, so beschleunigt er seinen Flug, um die Luftströmung zu überwinden; verstärkt sich der Wind, so strengen sich alle Glieder solches Schwarmes aufs äußerste an, um ihr Blutopfer ja nicht zu verlieren, und prallen dann wie prickelnde Hagelkörner an Haupt und Nacken. Ehe man noch ahnt, ist man bedeckt vom Wirbel bis zur Sohle, bedeckt mit Mücken. In dichtem Gedränge, graue Kleider schwärzend, dunkle in eigenartiger Weise fleckend, setzen sie sich fest, laufen langsam auf ihnen hin und wider und suchen nach einer nicht überwachten Stelle, um Blut zu saugen. Zu dem unbeschützten Gesichte, dem Halse und Nacken, den bloßen Händen oder nur überstrumpften Füßen sind sie lautlos gekrochen, ohne daß man es fühlte, und einen Augenblick später senken sie langsam ihren Stachel in die Tiefe der Haut und flößen den brennenden Gifttropfen in die Wunde. Ergrimmt schlägt man den Blutsauger zu Brei; aber während die strafende Hand sich bewegt, sitzen bereits drei, vier, zehn andere Mücken auf ihr, im Gesichte, im Nacken, an den Füßen, um ebenso zu thun, wie die erschlagenen thaten. Denn wenn einmal Blut geflossen, wenn auf einer und derselben Stelle bereits mehrere Mücken ihren Tod gefunden, suchen alle übrigen gerade diese Stelle mit Vorliebe auf, und ob das Blachfeld nach und nach mit Tausenden von Leichnamen sich decke. Besonders beliebte Angriffsstellen sind die Schläfen, die Stirn dicht unter dem Hutrande, der Nacken und die Handbeuge, überhaupt solche Stellen, auf denen sie gegen Abwehr möglichst geschützt sind.

Gewinnt man es über sich, sie bei ihrer Blutarbeit zu beobachten, also nicht zu vertreiben noch zu stören, so bemerkt man zunächst, daß man weder ihr Aufsitzen noch ihre Bewegungen zu fühlen vermag. Unmittelbar nachdem sie sich gesetzt haben, beginnen sie ihre Arbeit. Gemächlich laufen sie auf der Haut dahin, sorgfältig tasten sie mit ihrem Rüssel; plötzlich halten sie still, und mit überraschender Leichtigkeit durchbohren sie die Haut. Während sie saugen, heben sie wohlgefällig, förmlich wollüstig, ein oder das andere Hinterbein und bewegen es langsam hin und her, um so entschiedener, je mehr ihr glasheller Leib mit Blut sich füllt. Sobald sie einmal Blut gekostet haben, achten sie auf nichts weiter, scheinen es auch kaum zu empfinden, wenn man sie belästigt oder quält. Zieht man mit Hilfe einer kleinen Greifzange den Rüssel aus der Wunde, so tasten sie einen Augenblick lang und bohren ihn an der alten oder an einer zweiten Stelle wieder ein; schneidet man den Rüssel rasch mit einer scharfen Schere ab, so bleiben sie in der Regel auch jetzt noch sitzen, als ob sie sich besinnen müßten, lassen hierauf die vorderen Beine tastend über den Rüsselstummel gleiten und bedürfen längerer Untersuchungen, um sich zu vergewissern, daß das Glied nicht mehr vorhanden ist; schneidet man ihnen jählings ein Hinterbein ab, so saugen sie fort, als ob nichts geschehen wäre, bewegen auch noch den Stummel; trägt man ihnen den blutgefüllten Hinterleib zur Hälfte ab, so verfahren sie wie Münchhausen’s Pferd am Brunnen, ziehen endlich aber doch den Rüssel aus der Wunde, fliegen taumelnd davon und verenden binnen wenigen Minuten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_073.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2024)