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reinen Höhen der Hochtundra, da wo auf den Halden in unmittelbarer Nähe der Gletscher dem von der Renthierflechte oft auf weithin übersponnenen Boden auch saftige, leckere Alpenpflanzen entsprießen; im Winter zieht es in der Tieftundra von einem Hügelabzuge zum anderen, die vom Winde bloßgelegten, schneearmen Stellen aufsuchend. Kurz vorher hat es mit dem vereckten Geweih seine volle Kraft erlangt, ist im Vollgefühl derselben auf die Brunft getreten und hat mit gleichstarken und gleichgesinnten Nebenbuhlern gekämpft auf Tod und Leben, gekämpft, daß vom Schalle der gegen einander gestoßenen Geweihe die stille Tundra wiederhallte; jetzt zieht es, ermattet vom Kampf und Liebesrausch, mit anderen seiner Art friedlich gesellt und zu starken Rudeln vereinigt, durch sein Gebiet, um den Kampf mit dem Winter zu bestehen. Wohl steht das Ren an Schönheit und Adel weit hinter dem Hirsche zurück; wer es aber, unbedrängt durch Sklavenfesseln, in starken geschlossenen Rudeln, die Hochberge schmückend, vom blauen Himmel oder der weißen Schneedecke wirkungsvoll abstechend, in der heimathlichen Tundra sieht, bekennt gern, daß es ebenfalls zu den stolzen Wildarten zählt und ein Weidmannsherz schneller schlagen lassen kann, als dasselbe jemals vermuthen konnte.

Für die Tundra bezeichnende Erscheinungen bietet aber auch die Klasse der Vögel. Wer die nordische Wüste durchzogen hat, ist wenigstens einem von ihnen begegnet: dem Schneehuhn.

„Im Sommer bunt vom Kopf zur Zeh’,
Im Winter weißer als der Schnee.“

Es ist nicht das Schneehuhn unserer Hochgebirge, welches ich meine, sondern das neben ihm, dem auch hier auf den Gletschergürtel beschränkten Gebirgsvogel vorkommende, aber ungleich häufigere Moorhuhn. Wo die Zwergbirke gedeiht, ist es zu finden und immer, namentlich aber wenn die Nachtruhe eintritt in der Tundra, ob auch die Sonne vom Himmel strahle, läßt es sich sehen. Niemals verläßt es seine Heimath gänzlich, höchstens aus der Hochtundra, aber nur bis in die Tiefe hinab, drängt es der Winter. Munter und regsam, keck und selbstbewußt, eifersüchtig und streitlustig dem Nebenbuhler, zärtlich und hingebend der Gattin, den Kindern gegenüber tritt es auf. Sein Leben ähnelt dem unseres Rebhuhnes; sein Wesen und Gebahren übt jedoch ungleich höheren Reiz. Es verkörpert das Leben in der Oede. Sein herausfordernder Ruf durchhallt die stille Sommernacht, seine Ketten beleben die von fast allen übrigen Vögeln gemiedene winterliche Tundra, sein Erscheinen erfreut und entzückt den Forscher wie den Weidmann.

Während des Sommers gesellt sich ihm fast aller Orten der Goldregenpfeifer. Auch er muß als getreues Kind der Tundra bezeichnet werden. Wie der behende Läufer zur Wüste, wie das Flughuhn zur Steppe, das Steinhuhn zum Hochgebirge, die Lerche zum Getreidefelde, gehört er zur Tundra. Sein Kleid trägt, so bunt es auch erscheinen mag, der Tundra Farben; sein schwermüthiger Ruf ist der geeignetste Stimmlaut dieser Einöde. So gern man ihn bei uns zu Lande sieht, so wenig freundlich begrüßt man ihn in der Tundra. Sein Ruf, welchen man bei Tage wie bei Nacht vernimmt, stimmt traurig wie sie.

Weit lieber lauscht man den Stimmlauten eines anderen Sommergastes des Gebietes. Nicht die zarten Weisen des Blaukehlchens, welches gerade hier zu den häufigsten Brutvögeln zählt und mit Recht der „hundertzüngige Sänger“ genannt wird, nicht die schallenden Lieder der bis zur Tundra vordringenden Wachholderdrossel, nicht die kurzen Gesänge des Schnee- oder Sporenammers, nicht die gellenden Schreie des Wanderfalken oder Rauchfußbussards, nicht das jauchzende Bellen des Seeadlers oder das ähnliche Geschrei der Schneeeule, nicht der schmetternde Trompetenlaut des Singschwanes oder der klagende Hornton der Eisente sind es, welche ich meine, sondern der Paarungs- und Liebesruf des einen oder anderen Seetauchers: eine wilde, ungeregelte, und gleichsam zügellose, aber dennoch klang- und tonreiche, hallende und schallende Nordlandsmelodie, vergleichbar dem tönenden Brausen der Brandung, dem donnernden Rauschen der zur Tiefe stürzenden Wasserfälle. Wo immer ein fischreicher See sich breitet und in ihm ein heimliches Plätzchen im Riede, dicht genug, um ein schwimmendes Nest zu verstecken, gefunden werden mag, wird man ihnen begegnen, diesen Kindern der Tundra und des Meeres, diesen ernstfröhlichen Fischern der stillen Süßgewässer und furchtlosen Tauchern der Meere des Nordens. Von letzteren kamen sie herein in die Tundra, um zu brüten, und zu den Meeren führen sie ihre Jungen, sobald diese im Stande sind, das Meer zu beherrschen wie sie. So weit die Tundra sich erstreckt, folgen sie deren Gewässern; lieber noch aber als die weiten Binnenseen sind ihnen die kleinen Teiche auf den Küstenbergen der Tundra, von denen aus sie alltäglich unter wildjauchzendem Meeresgesange hinabstürzen können in die wogende, ihnen Nahrung spendende heimische See.

Dem Meere entstammen auch noch andere Charaktervögel der Tundra. Mit wahrem Wohlgefallen folgt das Auge allen Bewegungen der Schmarotzermöwe, mit Entzücken denen des Wassertreters. Beide brüten ebenfalls in der Tundra: die eine auf freien moosigen Mooren, der andere am Uferrande der heimlichsten zwischen der Wollweide verborgenen Teichen und Lachen. Wenn man andere Möwen als die „Raben des Meeres“ bezeichnen will, darf man die Schmarotzermöwen „Falken der See“ benennen. Mit Fug und Recht führen sie die Namen „Raub- und Schmarotzermöwen“; denn als tüchtige Räuber treten sie auf, wenn sie nicht schmarotzen können, und zu Schmarotzern werden sie, wenn eigene Jagd ihnen keine Beute bringt. Falkengleich durchfliegen sie im Sommer die Tundra, im Winter die Küstengebiete der nordischen Meere; rittelnd stellen sie sich über dem Boden wie über dem Wasser auf, um Beute aufzufinden, gewandt und zierlich stoßen sie herab, um sie aufzunehmen, und behend und sicher packen sie das ins Auge gefaßte Opfer: aber diese so tüchtigen Räuber nehmen keinen Anstand, unter Umständen frech zu betteln. Wehe der Möwe, dem Seevogel überhaupt, welcher angesichts einer Schmarotzermöwe Beute erhob! Pfeilschnell jagt diese unter bettelnden Rufen hinter dem glücklichen Räuber einher, wie spielend umgaukelt sie ihn von allen Seiten, listig vereitelt sie versuchte Flucht, muthig bekämpft sie jede Abwehr, und unermüdlich, unablässig quält und peinigt sie ihn, bis er die gewonnene Beute ihr zuwirft, sollte er eine solche auch wiederum aus seinem Schlunde hervorwürgen müssen. Ihr Wesen und Treiben, ihre Gewandtheit und Behendigkeit, Kühnheit und Dreistigkeit, unermüdliche Wachsamkeit und unabwendbare Zudringlichkeit fesseln ungemein; selbst ihre Bettelei will Entschuldigung finden: so anmuthend ist ihr Auftreten. Und doch ist der Wassertreter noch anziehender als sie. Er ist ein Strandvogel, welcher die Eigenschaften seiner Ordnung und die der Schwimmvögel in sich vereinigt und theils auf dem Lande, theils im Wasser, selbst im Meere lebt. Leicht und gefällig, an Zierlichkeit der Bewegung jeden anderen Schwimmvogel übertreffend, schwimmt er über die Wellen; eilfertig und hurtig läuft er längs des Ufers dahin; mit der Schnelligkeit einer Sumpfschnepfe streicht er im Zickzackfluge durch die Luft. Vertrauensvoll und harmlos läßt er sich in nächster Nähe beobachten; ängstlich besorgt um seine Brut, verräth er meist selbst sein Nest mit den vier birnförmigen Eiern, so sorgsam er dieses auch am Uferrande zu verstecken pflegt. Vielleicht darf man ihn die anmuthigste Erscheinung unter allen Vögeln der Tundra nennen.

Bezeichnend für die Tundra sind ferner die Raubvögel, bezeichnend mindestens die Art und Weise, wie sie hier leben. Denn nur am südlichsten Rande des Gebietes oder oben in der Hochtundra finden sie Bäume oder Felsen, auf denen sie ihren Horst errichten können, müssen sich daher wohl oder übel entschließen, auf dem Boden zu brüten. Zwischen dem rankenden Geäst der Zwergbirken steht der Horst der Sumpfeule, auf den Kronen selbst der des Rauchfußbussards; auf dem nackten Boden liegen die Eier der Schneeeule wie des Wanderfalken, nur daß letzterer so viel als möglich wenigstens den Rand einer Schlucht zum Nistplatze wählt, fast, als wolle er sich selbst täuschen, indem er vergeblich strebt, die ihm fehlende Höhe zu ersetzen. Daß ihm und ihnen allen die Unsicherheit des Horststandes wohl bewußt ist, beweisen sie durch ihr Gebahren angesichts eines der Brut nahenden Menschen. Von fern schon wird der Wanderer mit Mißtrauen beobachtet und mit lautem Geschrei begrüßt; je näher er kommt, desto mehr steigert sich die Angst der besorgten Eltern. Bisher kreisten sie in doppelter Schußweite über dem so selten sich zeigenden, gefährlichen Feinde; jetzt aber stoßen sie muthig auf ihn hernieder, fliegen so dicht an dem Haupte desselben vorüber, daß man das scharfe Sausen ihrer Schwingen deutlich vernimmt, zuweilen sogar fürchten muß, thatsächlich

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