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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 4.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Was will das werden?
Roman von Friedrich Spielhagen
(Fortsetzung.)


Ich hatte das Bild meiner Mutter nicht wieder gesehen und scheute mich, den Vater zu bitten, es mir noch einmal zu zeigen. Es bedurfte dessen auch nicht, denn, als wäre es nun in meiner Seele, sah ich es vor mir mit den kleinsten Eigenheiten, sobald ich nur die Augen schloß. Besonders des Abends vor dem Einschlafen. Sogar des Nachts im Traum; nur daß ich es dann nicht festzuhalten vermochte, wie im Wachen, sondern es sich verwandelte, immer wieder in weibliche Gestalten: in Frau Hopp oder ihre Tochter Christine, die mir im Alter gleich war, oder in Frau Israel oder Jettchen. Und am Tage, wenn ich ihnen begegnete, sah ich sie, von denen ich geträumt hatte, mit scheuen Augen darauf an, ob sie mir wohl was sie doch im Traum gethan, einen Kuß geben würden, wenn ich sie darum bäte.

Denn dies, ein einziges Mal von einem weiblichen Munde geküßt zu werden, war bei mir zur fixen Idee, zu einem Verlangen geworden, das mich verfolgte, wie den Gelehrten, den Dichter das Problem, dessen Lösung ihnen vorschwebt, nur daß sie die fliehende, zerflatternde nicht ergreifen und festhalten können. Mein Problein wäre scheinbar leicht zu lösen gewesen: das Mädchen, das unsere kleine Wirtschaft besorgte, war ein hübsches leichtfertiges Ding mit blitzend weißen Zähnen in dem immer lächelnden großen Munde und großen grauen begehrlichen Augen. Sie hätte mich sicher geküßt, wenn ich sie darum bat, ja, es fehlte nicht viel, so hätte sie es ungebeten gethan; aber ich hatte sie einmal des Abends in der Dämmerstunde auf dem Wall zwischen den Haselbüschen den tollen August küssen sehen – von ihr wollte ich keinen Kuß. Und wenn ich es mir recht überlegte, von den Anderen auch nicht. Am wenigsten von Frau Israel, deren kleine kurzsichtige Augen beständig zwinkerten und stets etwas geröthet waren, und in deren Munde zwei obere Schneidezahne über die Unterlippe so weit vorragten, daß ich alles Ernstes zu überlegen begann, ob die gute Frau beim besten Willen wirklich einen Kuß geben könne und Emil, der „oft“ von ihr geküßt sein wollte, nicht aus Pietät gelogen habe. Bei Frau Hopp waren dergleichen Ausstellungen nicht zu machen; auch wußte ich, sie würde den armen Jungen aus reiner Gutherzigkeit so oft geküßt haben, wie er wollte. Aber gerade das war es. Ihr Kuß hätte mir immer noch viel höher gestanden, als der der hübschen Marie; aber ein rechtes Verdienst wäre doch dabei nicht gewesen. Sie küßte eben Mann und Kinder, Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen – alles, was ihr in den Weg kam. Und dann, sie hatte ihr dickes blondes Haar nie ordentlich gemacht und trug beständig ausgetretene Schuhe. Und darin glich ihr Christine wie ein kleineres Ei dem größeren, nur daß dazu der Wildfang immer ein Kleid anhatte, das irgendwo aus der Naht geplatzt und ebenso irgendwo zerrissen und – wenigstens während des Sommers – mit den

Hans Joachim von Zieten.
Nach dem Townley’schen Kupferstiche aus dem Jahre 1786.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_057.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)