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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Püffe zu achten, die dabei für mich abfielen! Auch hatte ich immer Zeit, ihm, dem das Lernen entsetzlich schwer wurde, die Exercitia zu korrigiren, die Aufsätze Wort für Wort in die Feder zu diktiren, die Vokabeln Silbe für Silbe einzutrichtern. Und wenn ich mir dafür von ihm die Exempel rechnen ließ, so that das meiner Würde keinen Eintrag, da, in dieser Kunst zu excelliren, für einen, der Kaufmann werden sollte, selbstverständlich war, während es sich für einen künftigen Soldaten kaum geschickt haben würde.

Uebrigens wurden meine Verdienste um Emil nicht bloß von diesem, sondern auch von den Seinigen auf das Bereitwilligste anerkannt, und wenn ich das Nachbarhaus betrat, durfte ich mir schmeicheln, ein gern gesehener, ja, weit über seine kleine Person geehrter Gast zu sein.

Ich kam aber jetzt, seitdem Emil nach dem Tode Gustav Hopp’s in den alleinigen Besitz meiner Freundschaft getreten war, öfter als vorher in das Israel’sche Haus, das sich von dem Hopp’schen in jeder Beziehung des Aeußeren und Inneren völlig unterschied, so daß auch dadurch das frühere Stadium meiner Kinderzeit von dem Stadium der Knabenjahre, das jetzt begonnen hatte, charakteristisch sich abhebt.

War aber das Hopp’sche Anwesen mit seinem geräumig niedrigen Wohnhaus und den Appendixen der Ställe, Scheunen und Wagenremisen in behaglicher, schier endloser Breite hingelagert, so hob sich das schmalbrüstige Israel’sche Haus mit seinem alterthümlichen Giebel schier endlos in die Höhe. Roch es dort beständig nach Pferden und frischem Heu, so herrschte hier ausschließlich der muffige Duft des Korns in seinen verschiedenen Species; schleppte man dort das zertretene Stroh des unsauberen Hofes bis in die Zimmer hinein, so war hier alles – in den Wohnzimmern mit ihren blank gescheuerten nackten Dielen, auf den Böden, wo das Korn in sorgfältig geschichteten Haufen lag – von der peinlichsten Akkuratesse und Sauberkeit. Widerhallte das Hopp’sche Anwesen vom Morgen bis in die Nacht hinein vom vieltönigen Lärm wiehernder Rosse, polternder Wagen, durch einander sprechender, schreiender Menschen, so trat man hier zu jeder Zeit in klösterliche Stille, die selbst von den Arbeitern respektirt wurde, welche wöchentlich ein paar Mal die vom Lande hereingekommenen Kornsäcke vom unteren Flur aus mittelst einer Winde in die sich über einander thürmenden Böden schafften, oder auf den Böden die Kornhaufen mit breiten hölzernen Schaufeln schichteten und worfelten.

Waren nun schon die beiden Nachbarhäuser, zwischen denen unser dürftiges Häuschen fast verschwand, in allen den beregten Punkten wie zwei verschiedene Welten, so gipfelte diese Differenz in Ausdruck, Betragen, Charakter und wahrlich nicht zum wenigsten in der äußeren Physiognomie der Bewohner, die sich auch numerisch Widerpart hielten. Wimmelte es doch in der Hopp’schen Familie förmlich von pausbäckigen, blondhaarigen Kindern beiderlei Geschlechts und jeden Alters! Auch vertrautere Freunde, ja, ich glaube, die Eltern selbst konnten ohne vorhergegangene Rechnung die Zahl derselben niemals genau fixiren; und wenn eines starb – wie mein Freund Gustav – wurde die Lücke kaum empfunden, jedenfalls in möglichst und für mich immer überraschend kurzer Zeit ausgefüllt. Dazu Onkel, Tanten, Vettern, Kousinen – Verwandte aller Grade, die kamen und gingen, wochen-, monatelang blieben, so daß keiner, und manchmal wohl sie selbst nicht, wußten, ob sie zum eigentlichen Hausstand gehörten, oder nicht – ein sorgloses, lebensfrohes, immer essendes und trinkendes, lärmendes, vielleicht ein wenig rohes, aber im Grunde gemüthliches germanisches Wesen, für das Vater und Mutter Hopp die wahren Repräsentanten waren. Er, jetzt noch ein Mann in den besten Jahren mit kurzgeschorenen starren Haaren über der niedrigen Stirn und dem rothen Gesicht, von mittelgroßer, stämmiger Figur, die wie sein Hauswesen durchaus ins Weite und Breite ging, beständig polternd, ohne es jemals bös zu meinen; sie ein behagliches, dralles, rundes Weibchen, dem die nicht immer saubere Mütze stets schief auf dem sehr flüchtig gemachten reichlichen blonden Haare saß, im linken Arm den jedesmaligen Säugling, in der rechten einen Kochlöffel, scheltend, scherzend, weinend, lachend – alles in einem Athem – im Grunde der Seele immer gut und immer vergnügt.

Die Israel’sche Familie bestand nur aus vier Personen: Vater, Mutter, meinem Freunde Emil und seiner um zwei Jahr älteren Schwester Jettchen. Während drüben der Personenstand fortwährend wechselte, schien hier der Gedanke der Möglichkeit einer Verändernug ausgeschlossen, als gehörten diese Vier nicht nur zusammen, sondern seien auch von Anfang an zusammengewesen. Dies mochte wohl mit daher kommen, daß die beiden Kinder eigentlich ganz alte Gesichter hatten, und zwar genau die der Eltern. Emil das der Mutter, Jettchen das des Vaters, so daß sie nicht sowohl die Kinder, als etwa die jüngeren Geschwister ihrer Eltern zu sein schienen. Von der Mutter, welche mit ihrem Vornamen Sarah hieß, unterschied sich Emil zu seinem Vortheil nur dadurch, daß er nicht, wie diese, eine hohe rechte Schulter hatte, sonst waren sie gleich häßlich, aus braunen kleinen zwinkernden Augen kurzsichtig, mit denselben langen fleischigen Nasen, derselben dicken, stets in Verlegenheit zitternden Unterlippe, denselben platten, kurzfingerigen, stumpfnägligen Händen. Jettchen, ihres Vaters Ebenbild, war, wie dieser, ein kleines magres Wesen, mit krummer, wenn auch wohlgebildeter Nase und braunen runden Augen, was ihren Physiognomien etwas Vogelartiges gab, welcher Einduck noch durch die dünnen zwitschernden Stimmchen und eine gewisse Rastlosigkeit in der Haltung vermehrt wurde.

Der Umstand, daß Herr Isidor Israel (auf den Säcken stand I. I., und so wurde er auch spottweise von den Nachbarn genannt und ausschließlich so von Herrn Heinrich Hopp, vermutlich, weil dieser sich für das H. H. entschädigen wollte, mit welchem er auf Kegelbahnen und sonst von seinen Freunden gerufen wurde) — ich sage, daß Herrn Isidor Israel’s Kraushaar bereits anfing zu grauen, während Jettchen’s, wie die Hobelspäne in Vaters Werkstatt gewundene Löckchen in ursprünglicher Schwärze bläulich schimmerten, machte in meinen Augen keinen großen Unterschied, weil ich mich nicht eben gewundert haben würde, wenn die Kleine mit dem alten Gesicht auch eines Tages grau erschienen wäre.

Es gab allerdings auch physiognomische Unterschiede zwischen Vater und Tochter, und zwar sehr bedeutende, nur daß mir diese erst allmählich klar wurden, vielleicht auch erst im Laufe der Jahre schärfer hervortraten. Ich weiß nur, daß eine Zeit kam, wo ich nicht mehr begreifen konnte, wie ich die beiden jemals auch nur ähnlich hatte finden mögen.

In Einem aber waren sich alle Mitglieder der Familie damals völlig gleich: in der ausgesuchten, wenn auch schüchternen Höflichkeit, mit welcher sie mich jederzeit empfingen und behandelten.

Das Haus war mit Ausnahme der Stunden, wo Korn abgeliefert wurde, stets verschlossen. Zog ich nun die Schelle, welche einen eigenthümlich klappernden Ton hatte, so wurde der Riegel inwendig meist von Herrn Israel eigenhändig weggeschoben, der zu diesem Zwecke aus seinem kleinen Comptoir zur Rechten des Hausflurs von dem hohen dreibeinigen Schemel vor seinem Pulte herabgerutscht war, und mir stets zum Willkomm sein kleines dürres Händchen reichte, um mich bis an die Thür des etwas größeren Wohnzimmers zur Linken zu geleiten, welche er mir selbst öffnete.

Dort empfingen mich die Frauen, oder eigentlich immer nur die Mutter, da Jettchen sofort bei meinem Eintreten in das kleine Hinterzimmer huschte, um Emil herbeizurufen. Meistens hatte die Mutter im Fenster (aber so, daß sie von der Straße nicht gesehen werden konnte) bei einer Näharbeit gesessen, und Jettchen am Klavier — einem alten Kasten mit abgegriffenen Tasten, dessen Ton einen dünnen, an die klappernde Hausthürschelle mahnenden Klang hatte, und dem ich doch gern lauschte, weil — was ich damals freilich nicht wußte — Jettchen bereits eine kleine Virtuosin war. Doch gelang es mir nur selten, und es kostete jedesmal eine beredte Bitte meinerseits und stumme ermuthigende Blicke und Zeichen von seiten Emil’s und der Mutter, um die Schüchterne wieder an den Platz zu bringen, von welchem ich sie durch mein Erscheinen verscheucht hatte. Dann öffnete sich auch wohl geräuschlos die Thür nach dem Flur, Herr Isidor huschte herein, das Köpfchen auf die Seite geneigt, andächtig lauschend, um, sobald der letzte Akkord verklungen war, ebenso geräuschlos wieder hinauszuhuschen.

Unter diesen vier Menschen herrschte eine Einigkeit, die für mich etwas Feierlich-Mysteriöses hatte, wohl weil ich sie instinktiv in Gegensatz brachte mit dem Ton in dem Hopp’schen Hause, wo sich den lieben langen Tag jeder mit jedem zankte. Hier verstand man sich und sogar ohne Worte, erhob sich, setzte sich, ging, kam, brachte einander das Gewünschte, ohne daß auch nur für

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