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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Zeit nehmen – oder nachher in der Erinnerung zu zählen, das würde viel zu lange dauern, vielmehr ist es nothwendig, einfach mit größter Anspannung der Aufmerksamkeit zu schätzen.

Wer sich jedesmal ernstlich bemüht richtig zu rathen, wundert sich, nachdem er sich an dem unterhaltsamen Spiele öfters betheiligt hat, daß ein falsches Errathen immer seltener vorkommt, während es anfangs häufig war. Erst wenn die Zahl der angeschauten Gegenstände größer als 9 wird, kommen wieder Fehler in größerer Häufigkeit und größere Fehler als 1 zuviel oder 1 zuwenig vor. Jedoch weitere Uebungen im Schätzen auch größerer Mengen kleiner Gegenstände vermindern auffallend schnell die Größe und Häufigkeit der Fehler. Manchem will es freilich nach vielen Proben nicht glücken über die 10 hinauszukommen, wahrscheinlich wegen mangelhafter Anspannung der Aufmerksamkeit, welche anfangs groß sein muß und erst nach Erwerbung der neuen Fertigkeit im Schnellsehen nicht mehr besonders anstrengend ist. Dann hat man ein Gefühl, als wenn die richtige Zahl blitzschnell in den Kopf hineinführe.

Um diese Art der Zählung methodisch einzuüben, zeichnete ich auf weiße Karton-Vierecke (vergl. beifolgende Abbildungen) unregelmäßig und regelmäßig vertheilte Punkte und kleine schwarze kreisförmige Felder, welche einen Augenblick angesehen werden und sich vorzüglich zur Erlernung des unbewußten Zählens eignen. Es zeigte sich dabei, daß sehr viel auf die Anordnung der Punkte ankommt. Ein Kartenspieler erkennt sofort, ohne zu wählen, daß auf der Karte „Herz-zehn“ zehn Herzchen dargestellt sind, nicht aber ebenso schnell und ebenso sicher zehn Herzen oder Punkte, die z. B. ein Kreuz bilden. Die Symmetrie der Anordnung allein macht also nicht die Schätzung leichter, sondern die Kenntniß der Art der symmetrischen Anordnung.

Die Punkte der Kreuze, von denen man auf einmal nur eines freilegt und etwa eine Sekunde lang ansieht, sind schwerer richtig zu schätzen, als die Punkte in Kartenanordnung und in daraus gebildeten Figuren:

Noch leichter aber sind die Punkte zu schätzen in der Anordnung der Dominosteine und in derselben entsprechenden Figuren:

Man darf dabei die Punkte nicht zu klein zeichnen und muß sie tiefschwarz auf weißem Grunde oder umgekehrt vor sich haben. Alle Felder außer dem zu betrachtenden bleiben verdeckt. Am schwersten gelingt die Schätzung ungeordneter Punkte, zum Beispiel in folgenden Figuren:


Uebung, welche nur geduldige und aufmerksame Wiederholung ist, macht auch hier den Meister. Indessen ist schon durch den Fall Dase dargethan, daß noch so lange fortgesetzte Uebung über eine gewisse Grenze nicht hinausführt. Für die rasche Schätzung oder unbewußtes Zählen von Punkten in unbekannter symmetrischer Anordnung oder beliebigen gleichartigen ungeordneten Gegenständen scheint die Summe der Finger und Zehen, also 20 die Grenzzahl zu sein. Jenseit 20 hört wahrscheinlich, jenseit 30 zweifellos die Sicherheit auf auch nach der größten Uebung, an welcher es Dase nicht fehlte.

Damit ist nun nicht gesagt, daß mehr als 30 Punkte überhaupt nicht mit Sicherheit fast gleichzeitig unter besonderen Umständen aufgefaßt werden könnten; aber sie müssen dann schon in längst bekannter, förmlich auswendig gelernter Anordnung vorliegen. So können sehr geübte Karten- und Domino-Spieler in Neunern und Zehnern oder Fünfern und Sechsern etc. gegen 40 Punkte so schnell übersehen, daß sie sich der Addition nicht bewußt werden. Hierbei ist es aber nicht mehr die unmittelbare Anschauung der einzelnen Punkte, sondern die der Bilder, welche entscheidet. So wenig jemand beim Anblick der Zahl 8 von 1 bis 8 zählt, zählt der Spieler beim Anblick der Herz-acht. Das Kind, welches die Karten noch nicht kennt, zählt die einzelnen Herzen, indem es jedes derselben mit dem Finger betastet.

Um es schnell möglichst weit zu bringen, ist sehr bequem für Anfänger die Einübung mittels eines Buches. Wer mit geschlossenen Augen ein Buch aufschlägt und den größeren Theil einer Seite verdeckt oder durch einen Andern verdecken läßt, hierauf einen schnellen Blick auf die freigelassenen Zeilen wirft, um sofort zu errathen, wieviele es sein mögen, wird nach öfterer Wiederholung des einfachen Versuches, jedesmal mit einer andern Seite und ohne zu zählen, verwundert sein über die Sicherheit im Schätzen, welche dadurch sich ausbildet. Das kleine Kind aber ist völlig außer Stande, auch nur drei Zeilen mit einem Blick von einer Sekunde richtig zu schätzen.

Während der geistigen Entwickelung findet also eine Abkürzung, Vereinfachung und Beschleunigung des Zählens statt. Was zuerst mit Langsamkeit und Bedacht, mit gespannter Aufmerksamkeit und in mehreren Abtheilungen vorgenommen wurde, wird später sehr schnell ohne Anstrengung, ohne besondere Anspannung der Aufmerksamkeit, fast „wie von selbst“ oder „mechanisch“ ausgeführt.

Allemal ist mit einer ganz neuen geistigen Erregung von Gehirntheilen der höchste Grad des Bewußtseins verbunden, daher das Packende einer neuen Idee, während mit der Wiederholung derselben Erregung, je mehr also der Reiz des Neuen schwindet, auch um so weniger Bewußtsein in Anspruch genommen wird. Das Zählen wird schließlich durch immer wiederholtes Fortschreiten von 1 zu 2 zu 3 zu 4 etc. unbewußt wie zum Beispiel das schnelle Bewegen der Finger beim Klavierspielen, welches anfangs große Mühe und Willenskraft erforderte. Es wird in allen ähnlichen Fällen Bewußtsein erspart.

Was beim erstmaligen Eindruck höchst überraschend erschien, kann sogar, wenn es gar zu oft wiederkehrt, wie das ABC, trivial werden, nämlich abgenutzt. Am Scheideweg, wo drei häufig begangene Wege zusammentreffen, ist der Boden mehr abgetreten, als auf jedem einzelnen Wege, daher das Wort (aus dem Lateinischen tres, tria „drei“ und via „Weg“). Geradeso die einfache Verstandesthätigkeit des Zählens, deren zugehörige Bewegung schließlich die sehr oft benutzten Nervenfasern und Nervenzellen im Gehirn unbewußt durchläuft. Auf neu angelegten Eisenbahnen fahren nur langsame Züge; je älter die Bahn, je besser sie sich bewährt, um so schneller saust der Kourierzug dahin, ohne an Zwischenstationen zu halten. Aehnlich der Eilzug menschlicher Gedanken im Gehirn.

Und hierauf beruht auch die praktische Bedeutung der Schnell-Zähl-Uebungen.

Wer bis 20 oder nur bis 12 unbewußt sicher zählt, hat einen großen Vortheil vor Anderen voraus, welche nicht einmal 6 von 7 unfehlbar unterscheiden können, ohne zu zählen, weil er sein Bewußtsein anderen Dingen zuwendet und namentlich durch die Uebung im Schnellsehen überhaupt seine Kenntnisse wesentlich erweitert, wo ein Anderer nur ganz langsam von der Stelle kommt.

Diejenigen Bewegungen des Menschen, welche durch einen äußeren Eindruck ohne Betheiligung des Bewußtseins geschehen, wie z. B. die Verengerung der Pupille, wenn helles Licht in das Auge fällt, nennt man bekanntlich Reflexbewegungen. Dieselben kommen zum Theil dadurch zu Stande, daß oft wiederholte willkürliche Bewegungen (z. B. das Schließen des Auges, wenn man mit der Hand dagegen fährt, ohne zu berühren, das Hutabnehmen beim Grüßen) immer schneller ohne Willen und Ueberlegung verlaufen. So wird auch das Zählen von 1 bis 5 bei jedem durch Wiederholung unbewußt und nähert sich der Reflexbewegung. Und wenn viele solcher einfacher geistiger Vorgänge, bei deren bewußter Wiederholung man nichts Neues lernt und nur Zeit verliert, immer schneller und mehr wie Reflexe ablaufen, dann wird das Gehirn frei für höhere Geistesthätigkeit.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Leipzig: Ernst Keil, 1886, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_016.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2024)