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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Unbehilflichkeiten abgesehen, die noch die Anfängerin verriethen, in den vorigen Auftritten selbst jenen alten Stern und Liebling übertroffen habe; den letzten Akt aber singe dieser eben Niemand nach. Das war Erfolgs genug.

Wie sehr sich die Ansichten widersprachen, jedenfalls hatte Bianca bereits den ganzen Abend hindurch so sehr gefallen, daß ihr die Ermattung im letzten Akt wenig oder gar keinen Schaden mehr that. Sie hatte das Publikum bereits so sicher erobert, daß auch der schwächere Theil ihrer Leistung günstig aufgenommen und sie am Schluß der Oper lebhaft gerufen wurde.

Ihre Anstellung konnte schon nach diesem ersten Probegastspiel für entschieden gelten. Und der Intendant, der auf die Bühne kam, ihr seine Freude über den großen Triumph auszusprechen, gab ihr auch ziemlich unverblümt zu verstehen, daß er sie von dieser Leistung ab getrost zu den Seinigen zähle.

Bianca, noch im Gewände der verurtheilten Verbrecherin und mit der schweißdurchfurchtcn Schminke auf den Wangen, verbeugte sich stumm. Sie war zu erregt, zu erschöpft, um zu sprechen.

In der Garderobe angelangt, schob sie hastig den Riegel vor, sank auf den Stuhl und weinte lange bitterlich.

Die Ankleidefrau gab sich endlich Mühe, sie zu beruhigen, obwohl sie den Zustand für einen Weinkrampf hielt und einen solchen nach so heftiger Aufregung und nach der ersten solcher Aufregungen, die fürs Leben entschied, nur allzubegreiflich fand.

Jawohl! Die Summe, welche Bianca jetzt unter Thränen zog, entschied für ihr Leben. Aber anders, als es die gute alte Garderobière glaubte, die eine Reihe von Triumphen, alle mit reichlichen Trinkgeldspenden für sie verziert, vor Augen sah und darum der schönen Debütantin aufrichtigen Herzens das größte Glück und den vollsten Ruhm wünschte.

Pater Otto und ich, die wir die neue Diva vor dem Thor ihres Hotels erwarteten, mußten lang auf der Straße hin- und wiederschildern, bis endlich der Thespiskarren erschien. Edgar durfte nicht der Dritte im Bunde sein. Noch nicht. Der Chorherr hatte schon im letzten Akte Zeichen stummer Aufregung gegeben und mich, wenn die Stimme ihm bedenklich erschienen war, mit geheimen Andeutungen, wie da waren hastige Händedrücke, Stoßen mit dem Beine oder auch nur großer Augenaufschlag, von seiner leidenschaftlichen Theilnahme hinreichend überzeugt. Er machte auch jetzt seine verlorenen Schritte auf dem gasbeleuchteten Straßenpflaster wie einer, der voll Erwartung, Bedenken und Besorgniß ist.

Als wir aber der Sängerin aus dem Wagen halfen und mit ihr uns zum späten Mahle setzten, war jede trübe Stimmung aus seinem Gesichte weggewischt. Er hatte seine Züge vollkommen in Gewalt.

Die ältere Schwester hatte sich sehr ungern und nur auf ein mehrfaches Dixi! Punktum! des Vaters entschlossen, als Opernmutter zu fungiren. Sie fand an all dem unruhigen Treiben und der nothwendig damit verbundenen Aufregung keinerlei Vergnügen. An der Kunst hegte sie kein Interesse und vom glänzenden Schauspiel kriegte sie nur die ranzige Kehrseite zu sehen. Zudem gab es nach ihrer Ueberzeugung außerhalb der Linien Wiens kein menschenwürdiges Dasein; demgemäß verlangte sie überall Wiener Gerichte, Wiener Getränke und Wiener Gebräuche und fand alles am Ort Gebotene, auch das Theater, das Orchester und – sie ahnte nicht, wie schauderhaft sie frevelte – auch das liebe Bier unter aller Kritik.

Im Gasthof vermißte sie die Gemüthlichkeit und schützte gegen jede Zumuthung, aufgeräumt und gesellig zu sein, die heftigsten Kopfschmerzen vor. So hatte dies würdige Kind des „Herrn von Latschenberger“ sich auch heute sofort nach dem Ende der Oper ins Bett begeben, und wir saßen nur zu Dreien um den geselligen runden Tisch; das vierte Gedeck, welches für Bianca’s Schwester aufgelegt worden, blieb leer.

Die ersten Begrüßungen und Beglückwünschungen waren an den Mann oder vielmehr an das Fräulein gebracht. Bianca, die von Anstrengung und Aufregung ganz erschöpft war, bat nur, rasch die Speisen aufzutragen. Sie nippte vom Rheinwein und legte dann doch die Gabel mit dem ersten Bissen wieder unberührt auf den Teller und sagte, das süße Gesicht in die Hand gebeugt: „Weißt Du, Otto, was mir den ganzen Abend in Freud und Leid abgegangen ist und was mich schier wundert, so wenig es zum Verwundern ist?“

„O ja,“ versetzte der Chorherr, ohne sich in der rüstigen Arbeit mit Messer, Gabel und Kinnbacken im Geringsten stören zu lassen, denn auch dieser Vetter hatte den ganzen Tag über vor lauter Aufregung und Erwartung nicht viel Nahrhaftes über die Lippen gebracht und stürzte sich jetzt nach Erleichterung des Gemüths mit klösterlichem Wolfshunger auf das erste Gericht. „Ich kann mir’s denken. Aber ich werde mich wohl hüten, es zu sagen.“

„Ich sag’s! und warum nicht!“ antwortete Bianca, und aus ihren blauen Augen blitzte die Liebe: „Ich hätte darauf geschworen, Edgar müßte heut’ im Theater sein.“

„Er war auch da!“ sagte Pater Otto trocken.

Bianca schrie auf. „Was?! und das sagst Du mir jetzt erst? und wartest erst noch auf meine Fragen?! Geh, schäm’ Dich! Wo, wo ist er?!“

„Bei Deiner nachtragenden Art konnte man nicht wissen, ob Du ihn im Theater sehen wolltest … Jetzt iß etwas vor allen Dingen, und was den armen Kerl, den Edgar betrifft, der zappelt vor Ungeduld nicht weit von hier. Wirst ihn gleich sehen! …“ Er klingelte mit seinem Siegelring am Weinglase und rief: „Kellner, wollen Sie dem Herrn von Nr. 15 sagen, daß wir ihn hier erwarten und daß für ihn bereits gedeckt ist.“

Bianca stand auf und warf die Serviette über den Stuhl. Aber noch ehe sie die Thür erreichte, stand Edgar vor ihr. Er mußte nebenan auf den Ruf geharrt haben.

Die Sängerin streckte dem Freunde beide Hände entgegen. Er versäumte keines dieser Wunderwerke des Schöpfers andächtig und wiederholt zu küssen. Er überschüttete Bianca mit seinem Lob und seiner Begeisterung, aber unter all den berauschten Worten klang ein Grundbaß von Traurigkeit, der nicht erlosch, wenn er auch freudig die Melodien des Entzückens trug.

Edgar kam sich gerade heute nach diesem Triumph seiner Angebeteten so unbedeutend, so unwürdig vor. Was hatte er einer solchen Künstlerin zu bieten! Was für eine Rolle sollte er, der heruntergekommene, sich erst mühsam wieder emporarbeitende Kaufmann, neben diesem strahlenden Mädchen spielen, welches die Bahn des Erfolges mit dem ersten Schritte schon so siegreich betrat!

Er sprach es nicht aus. Aber wer vorhin Pater Otto beobachtete, wie er in widerstreitenden Gefühlen kämpfend unter den Gaslaternen auf- und abmarschirte, der besaß für die unausgesprochenen Gedanken Edgar’s schon Verständniß.

Bianca war ganz in Glück und Freude getaucht. Eine wunderbare Klarheit strahlte aus ihren blauen Augen, aus dem ganzen schönen Gesicht. Sie hatte den schweren Entschluß bereits hinter sich. Jede Trübniß war abgeworfen. Sie sah die Wahrheit der Dinge vor sich, wo wir Anderen noch zweifelten, wähnten und sorgten.

Das Mahl verlief in eifrigen Gesprächen über das jüngst Erlebte. Schüchtern streifte zuerst Edgar die nächste Zukunft. Bianca ließ uns Andere darauf antworten und blickte nur stumm mit ihren großen Augen von dem zu jenem, der gerade das Wort nahm.

Endlich machte sich die Müdigkeit auch bei ihr geltend und wir schieden rasch auf baldiges Wiedersehen. –

Edgar hatte um die Erlaubniß gebeten, ihr gleich am andern Morgen nach dem Frühstück seinen Besuch machen zu dürfen, weil seine Geschäfte kein längeres Fernbleiben von Hause duldeten.

Als er eintrat, fand er Bianca allein. Selbst Pater Otto hatte noch nicht vorgesprochen. Befangen blieb er an der Thür stehen, da ein Zimmerkellner, der gleichzeitig eingetreten war, einen Brief überreichte und Bianca das Siegel erbrechend überrascht ausrief: „Von der Intendanz!“

Sie nöthigte den Freund nach kurzem Gruß zum Niedersetzen und hat um die Erlaubniß, lesen zu dürfen.

Nachdem dies rasch geschehen war, sah sie strahlenden Blickes auf und sagte: „Der Intendant schreibt mir in sehr liebenswürdigen Worten, daß er nach dem gestrigen Erfolg schon heute bereit sei, mit mir abzuschließen. Lesen Sie selbst!’“

Edgar guckte wohl in den Brief, aber es tanzten ihm die Buchstaben einen so häßlichen Reigen vor, daß er es alsbald für Zeitverlust erachtete, hier etwas Anderes anzuschauen als Bianca Scandrini, die er vielleicht heute schon für immer wieder verlieren sollte.

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