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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

und Großvater trafen, weniger der Livia als vielmehr der Nemesis zuschreiben, von welcher man sagt, daß sie die Weltgeschichte durchschreite, um die Pläne und Hoffnungen der Octaviane, Philippe, Napoleone u. s. w. zunichtezumachen.

Kurz nach des Tiberius Heimkehr starb, unterwegs nach Spanien, Lucius Cäsar zu Massilia (Marseille) am 20. August des Jahres 2 n. Chr. und 18 Monate später verschied Gajus auf der Rückreise aus Asien nach Italien begriffen, zu Limyra in Lykien an durch eine empfangene Verwundung gesteigerter Entkräftung. Der Kaiser versuchte die Lücke, welche diese ihn höchst schmerzlich ergreifenden Todesfälle gerissen, einigermaßen auszufüllen dadurch, daß er seinen jüngsten Enkel, Agrippa Posthumus, und zugleich seinen Stiefsohn Tiberius förmlich adoptirte. Das hatten die Bestürmungen vonseiten der Livia endlich doch zuwegegebracht, aber es war auch eine Staatsnothwendigkeit. Denn Augustus wußte recht gut, daß der rohe, bildungslose und halbtolle Junge, sein Enkel Agrippa Posthumus, ihm keine Hilfe und Stütze im Reichsregiment sein könnte, daß dagegen Tiberius ihm das sein würde. Darum begleitete er den feierlichen Akt der Adoption am 27. Juni des Jahres 4 n. Chr. in der Sitzung des Senats mit den Worten: „Ich schwöre, daß ich um des Staatswohls willen den Tiberius an Sohnesstatt annehme.“ Etliche Jahre nachher sah sich der greise Kaiser in die bittere Nothwendigkeit versetzt, auch seine Enkelin und den letzten ihm gebliebenen Enkel als brandige Auswüchse von seinem Dasein zu trennen. Die jüngere Julia, eifrig darauf aus, im Laster ihre Mutter zu überbieten, wurde zur Buße dafür auf der Insel Trimerus (Tremiti) an der apulischen Küste eingethürmt. Agrippa Posthumus, zu allem Rechten unfähig und unwillig, war schon mit 19 Jahren ein so brutaler Wüstling, daß er durch sein Gebaren die Würde des kaiserlichen Hauses in den Koth schleifte. Sein Großvater ließ ihn daher auf der Insel Planasia (Pianosa) bei Elba gefangensetzen, woselbst er später (14 n. Chr.) getödtet wurde, unentschieden, ob noch einer Anordnung des Augustus gemäß oder einem Befehl des Tiberius zufolge.

So war für den Sohn der Livia die Bahn freigemacht. Aber schon jahrelang zuvor war das Verhältniß Tibers zu seinem Stiefvater ein besseres und traulicheres geworden. Die politischen und militärischen Fähigkeiten und Leistungen des Adoptivsohns mußten dem alten Kaiser mehr und mehr nothwendig werden und ihm auch mehr und mehr Achtung abgewinnen. Tiberius verstand es, ihm die ungeheure Bürde der Weltherrschaft zu erleichtern, ohne doch die Eitelkeit und Eifersucht zu verletzen, allwomit der Greis an dem Besize dieser Herrschaft hing. Der Kaiser machte sich allmälig immer bestimmter mit dem Gedanken vertraut, in seinem Stiefsohn seinen Nachfolger zu sehen. Eine Reihe von Auszügen aus Briefen des Adoptivvaters an den Sohn, welche Sueton uns überliefert hat, zeigt klärlich, wie hoch Augustus den Tiberius werthete und, in seiner Art, auch liebte. Er wird da „Allerliebster Tiber“ (jucundissime Tiberi) angeredet und seiner feldherrlichen Tapferkeit, Umsicht und Wachsamkeit halber gelobt. Mit Fug. Denn Tiberius war es ja, welcher mittels wiederholter Feldzüge in Germanien und Pannonien die in jenen Gegenden sehr gefährdete Waffenehre und Macht Roms wiederherstellte und zur Geltung brachte. Das gute Vernehmen zwischen Stiefvater und Adoptivsohn, welcher in den letzten Jahren des Augustus als anerkannter Mitregent dastand, blieb ungetrübt bis zur Stunde, allwo zu Nola Tiberius die Zügel der Herrschaft aus der im Tode erstarrten Hand seines Vorgängers übernahm.

Wie war nun zu dieser Zeit der Ruf des fünfundfünfzigjährigen Mannes? Tacitus antwortet: „Man muß seinen Wandel als Privatmann und sein Verhalten als General unter Augustus vortrefflich nennen“ (egregium vita famaque, cet.). Aber in demselben Athem deutet der römische Historiker an, diese Vortrefflichkeit sei nur eine scheinbare und listige gewesen, und spricht von erheuchelten Vorzügen („fingendis virtutibus“). Man muß sich eben gefallen lassen, daß beim Tacitus vieles unmotivirt und unvermittelt neben einander steht. Wie, bis zum fünfundfünfzigsten Lebensjahr, ja sogar noch verschiedene Jahre darüber hinaus – wie sich aus dem Zusammenhang der bezüglichen taciteischen Stelle ergibt – hätte Tiberius den Heuchler gemacht, um dann erst die Maske der Verstellung abzuthun? Rein unmöglich das! Wer so lange geheuchelt, kann gar nicht mehr aufhören, zu heucheln: die Heuchelei ist ihm zum Lebenselement, ja, zur Natur geworden.

Die historische Wahrhaftigkeit verlangt demnach gebieterisch eine andere Erklärung der furchtbaren Veränderung, welche mit Tiberius, dem Kaiser Tiberius vorging – übrigens nicht etwa plötzlich, sondern nur sehr allmälig. Eine unbefangene Prüfung und Werthung der uns zu Gebote stehenden Quellen dürfte zu diesem Ergebnis führen: – Die Masse von Verbitterung oder, gerade herausgesagt, von Galle, welche sich von kindauf in Tiberius angehäuft hatte, mußte den physischen Organismus des Mannes so verstimmen, daß infolge dieser Verstimmung auch eine psychische Hypochondrie eintrat, welche mitunter geradezu eine starke Färbung von Wahnsinn annahm. Solcher Wahnsinn – für welchen man ja die richtige Bezeichnung „Kaiserwahnsinn“ gefunden hat – mußte sich dann um so schrecklicher gestalten und äußern, als einestheils in dem Gedanken, der Herr der Welt zu sein, etwas so Märchenhaftes, Verlockendes, Bezauberndes und Berauschendes lag, daß auch ein solid gebautes Menschengehirn davon wohl schwindelig und wirbelig werden konnte, und anderntheils fortgesetzte schlimme Erfahrungen den Tiberius wohl an der Welt, an den Menschen und an sich selbst irremachen und verzweifeln lassen konnten.


6.

„In Rom – so schreibt Tacitus da, wo er Tibers Regierungsantritt erzählt – wetteiferten Consuln, Senatoren und Ritter in der Knechtschaffenheit (ruere in servitium). Je höheren Ranges, desto gleißnerischer und zudringlicher. Mit einstudirter Miene, um ja keine Freude über den Tod des einen Fürsten und keine Betrübniß über des andern Gelangung zum Regiment sehen zu lassen, brachten sie in niederträchtiger Huldigung Thränen, Lachen und Seufzer mit- und durcheinander vor.“

Hier ist im Lapidarstil angedeutet, warum Tiberius als Kaiser wurde, werden mußte, was er geworden. Diese römische Sklavenbande bedurfte der Peitsche und küßte sie.

Sueton seinerseits meldet: „In der ersten Zeit seiner Regierung benahm er sich ganz bürgerlich und fast wie ein Privatmann (civilem admodum ac paullo minus quam privatum egit). Von den großen Ehrenbezeigungen, welche man ihm verschwenderisch darbot, nahm er nur wenige und bescheidene an. Die Errichtung von Tempeln, die Stiftung von Priesterschaften ihm zu Ehren verbat er sich entschieden. Auch Standbilder sollten ihm nur mit seiner ausdrücklichen Erlaubniß aufgerichtet werden. Die Titel Imperator und Augustus lehnte er ab.“ Das wird durch das Zeugniß des Cassius Dio bestätigt, welcher angibt, Tiberius habe nur den Titel Princeps führen wollen in der Bedeutung eines Vordersten, eines Fürsten, eines Ersten unter seinen Mitbürgern. Zu betonen ist auch die Nachricht beim Sueton, daß der neue Kaiser es verschmäht habe, gegen solche, die ihn und die Seinigen beschimpften und verleumdeten, gerichtliche Verfolgungen anstrengen zu lassen, und daß er bei solchen Veranlassungen die Aeußerung gethan: „In einem freien Staate müssen Denkweise und Sprache frei sein.“

Alles zusammengenommen, wird man also sagen dürfen, sagen müssen, daß die Anfänge von Tibers Regiment gut, würdig und löblich gewesen seien. Möglich, daß auch die Fortsetzung so geblieben, falls die Zeit eine andere war. Die sämmtlichen auf uns herabgelangten Berichte ergeben als Summe, daß der Nachfolger des Augustus seine Regentenpflichten etwa in der Art und Weise faßte und zu erfüllen strebte, wie viele Jahrhunderte später König Friedrich der Zweite und Kaiser Josef der Zweite sie gefaßt und erfüllt haben; nämlich so, daß er sich als erster Diener des Staates fühlte und bekannte. Keineswegs nur in Worten, sondern vielmehr mittels seines ganzen Thuns und Waltens. Wäre der Begriff des modernen Konstitutionalismus auf das römische Staatswesen anwendbar, so könnte man versucht sein, den Tiberius einen konstitutionellen Monarchen zu nennen. Wie er es sich im allgemeinen angelegen sein ließ, der eingerissenen Knechtseligkeit entgegenzuarbeiten, so bemühte er sich im besonderen, das tiefgesunkene Ansehen des Senats wieder zu heben, namentlich dadurch, daß er sich den Beschlüssen der „Versammelten Väter“ unweigerlich fügte. Redlich und angestrengt arbeitete er für die Sicherung der Reichsgränzen und des römischen Machtbestandes, für eine gute Ordnung der Finanzen, für eine ehrliche Führung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 813. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_813.jpg&oldid=- (Version vom 25.2.2023)