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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

hallte ein lautes Rappeln, Rollen und Brechen – „Halt!“ ließ eine heiser schreiende Stimme sich vernehmen – jenes Klappern und Brechen verstummte nicht, es verstärkte sich, kam näher und näher – im Latschendickicht sah man die ragenden Gipfel und Aeste zittern, schwanken und schlagen – „Halt!“ wiederholte sich jener heisere Ruf – und nun theilten sich die Zweige, und Ferdl wankte auf das offene Gestein, keuchend und röchelnd wie ein von Hunden gehetztes Wild. Einen Augenblick verhielt er, um Athem zu schöpfen, seinen Lauf und drückte dabei die eine Faust, welche die blaue Mütze krampfhaft umschlossen hielt, auf die fliegende Brust, die andere wider die rechte Hüfte, von welcher das blutüberronnene Beinkleid niedergerissen war – dann wieder wollte er thalwärts fliehen – da aber sprang der Kommandant aus seinem Verstecke hervor und versperrte ihm den Weg.

„Ergeben S’ Ihnen in Güte, Ferdinand Fink – es giebt keinen Ausweg mehr!“

Stöhnend taumelte Ferdl zurück, starrte mit brennenden Augen um sich, sah drüben den Jäger stehen und stürzte unter gurgelndem Aufschrei mit verzweifelten Sätzen dem Rande der Höllbachschlucht entgegen.

Hinter ihm aber brach in diesem Augenblicke der Verfolger aus dem Dickicht und riß, an einem Steinblock eine Stütze suchend, mit dem dritten „Halt“ das Gewehr an die Wange.

„Jesses – net schießen!“ kreischte der Kommandant, stürzte auf den Gendarmen zu, und während er ihm das Gewehr in die Höhe schlug, daß der Schuß sich krachend in die Luft entlud, fuhr drüben über der Schlucht der Jäger aus seiner Erstarrung empor mit dem schrillenden Rufe.

„Ferdl – Ferdl – um Gotteswillen – da springt ja kein Hirsch net ummi!“

Doch die Warnung kam zu spät. Schon schnellte sich der Bursche mit hohem Satze hinaus über den Rand der Schlucht – die Verzweiflung mußte ihm die Kräfte zu solchem Sprunge gegeben haben – glücklich erreichte er auch mit den Füßen das andere Ufer, doch unter der Wucht des Anpralls brachen ihm die Kniee. Jammernd warf sich Gidi mit ausgestreckte Armen dem Freunde entgegen, doch ehe er ihn noch zu erreichen vermochte, sah er ihn taumeln, die Arme kreisend in die Luft schlagen und rückwärts niederstürzen über den Felsenbord, unter dem gellenden Aufschrei: „Jesus Maria! Grüßt’s mir mein Jörgenbruder!“

Ein dumpfer, klatschender Schlag – das Rasseln und Poltern der nachstürzenden Steine – und aus der Tiefe war nur noch das Brausen und Rauschen des Wassers zu hören, während in der Höhe der schneebedeckten Felsen mit grollendem Hall das Echo des gefallenen Schusses verrollte.

„Aus is! Aus is!“ stammelte Gidi. „Unser Herrgott sei gnädig Deiner armen Seel’.“

Er hob die zitternde Hand, bekreuzte das erblaßte Gesicht und sank auf die Kniee nieder zu stummem Gebete.


Es war um die zehnte Morgenstunde, als Gidi sich dem Finkenhofe näherte. Kaum trugen ihn noch die Füße; er ging gebückt und mit wankenden Knieen wie ein Greis. Und doch – als er den Zaun des Gehöftes erreichte, richtete er sich straff empor. Er fuhr sich mit den Händen über die Augen, denn er meinte zu träumen, da er nicht zu fassen wußte, was er gewahrte. Aber das konnte kein Traum sein – er hörte ja das summende Geflüster all der vielen Leute, die den ganzen Hofraum erfüllten und zumeist in schwarze Gewänder gekleidet waren, als hätten sie sich zu einem Leichengange gerüstet.

Zögernden Schrittes trat Gidi in den Hof, faßte den Nächsten beim Arme und frug mit bebender Stimme:

„Was is denn? Was soll denn das Alles heißen? Was hat’s denn ’geben?“

„Ja, weißt es denn Du noch net? D’ Hanni is g’storben – verunglückt im Wasser – drin in der Münchnerstadt. G’wiß wahr, ’s ganze Ort is rebellisch ’worden, wie die Botschaft um’gangen is heut’ in der Fruh. No – und a Stund’ kann’s her sein, da is d’ Finkenbäuerin ’kommen und da habn s’ auf ’m Wagen den Sarg von der Station ’bracht. Natürlich bin ich auch mit draußen g’wesen wie s’ den Sarg mit Fahn’ und Lichter an der G’mein’grenz’ abg’holt haben. Du, ich sag’ Dir’s – ganz dergriffen hätt’s Dich, wann die Bäuerin g’sehen hättst, wie’s verweint und derkeit[1] g’wesen is und wie sie sich hing’worfen hat am Bauern sein’ Hals und g’schluchzt hat: ‚O mein Jörg! O mein armer Jörg!‘ Und der is Dir dag’standen, kaasweiß im ganzen G’sicht – aber – aber net a Zahrl is ihm aus die Augen g’ronnen – g’rad ’s Bahrtuch hat er allweil ang’starrt – und nachher hat er den schwarzen Zipfl ’packt, und nimmer ausg’lassen hat er ihn, auf ’m ganzen Weg. No ja – und jetzt is halt nachher d’ Leich’ – gleich muß der Pfarrer kommen.“

Kein Laut kam über Gidi’s Lippen; als er sich dem Hause zudrängte, starrten ihm die Leute mit scheu verwunderten Augen in das fahle, verstörte Gesicht. Mit Mühe gelangte er zur Thür. Falber Kerzenschein erfüllte den Flur, in welchem der offene Sarg auf einem schwarzverhängten Schragen stand. Ein Zittern überkam den Jäger, als seine Blicke auf die Leiche fielen. Sie war in ein dünnes, weißes Gewand gekleidet, dessen Falten sich eng an die schlanken und sanften Formen des herrlichen Körpers schmiegten. Mit reichen Wellen übergoß das offene braune Haar die Schultern und die Büste und verschleierte die weißen Hände, die, über der Brust gefaltet, ein kleines Kreuz von Ebenholz umschlossen hielten. Wachsbleich hob sich aus der dunklen Umrahmung der losen Flechten das schmale, feine Gesicht; es war im Leben nicht schöner gewesen, als jetzt im Tode. Gleich sichelförmigen Schatten lagen auf den Wangen die Wimpern der dünnen Lider, durch deren Blässe die dunklen Augensterne hindurch zu schimmern schienen. Ein schmerzlicher Zug war um den schönen Mund gelegt, der dennoch zu lächeln schien; es war, als läge noch ein unausgesprochenes, liebevolles Wort auf diesen Lippen.

Zu Häupten der Bahre stand die Finkenbäuerin, weinend und betend, ihr zu Füßen knieete Veverl, das schluchzende Lieslein an ihrer Seite, unter der offenen Stubenthür kauerte der Knabe, mit scheuen Blicken bald die Bahre, bald die Mutter und bald den Vater streifend, der drüben am Geländer der Treppe lehnte, mit krampfhaft verschlungenen Händen, ein Bild qualvoller Trauer und tiefen Schmerzes. Als Gidi die Schwelle betreten hatte, war Jörg zusammengefahren, hatte die Augen mit bangen Blicken der Thür zugeworfen und war wieder in sein brütendes Niederstarren versunken.

Eine Weile stand Gidi in stummem Gebete, dann bückte er sich nach dem Weihwasserkessel, der zu Füßen der Bahre stand, sprengte einige Tropfen des geweihten Wassers über die Leiche und verließ den Flur. Auf der Schwelle begegnete ihm Emmerenz; sie war schwarz gekleidet und hatte verweinte Augen, Gidi faßte sie beim Arme und zog sie mit sich fort, dem Gesindehause zu. „Enzi – sei so gut,“ flüsterte er mit bebender Stimme, „kann ich – kann ich mein G’wehr und mein Rucksack einstellen bei Dir – und – und nachher hab’ ich Dir auch ’was zum sagen.“

Wispernd blickten die Leute den Beiden nach und wußten nicht, was sie denken sollten, als sie die Dirne unter der Thür des Gesindehauses jammernd die Hände in einander schlagen sahen. Neugierig eilten einige von den Leuten hinzu, doch hinter den Beiden schloß sich schon die Thür.

Im gleichen Augenblicke scholl vom Kirchthurme her das beginnende Geläute der Glocken und an einer Wendung der Straße erschien der greise Pfarrer im weißen Chorrock, ihm folgten der Meßner mit dem Rauchfaß und die Ministranten mit Fahne, Kreuz und Laternen.

Während dann im Flur die Aussegunug der Leiche vollzogen wurde, erschienen Emmerenz und Gidi wieder unter der Thür des Gesindehauses.

„Und doch – und doch, Gidi,“ stammelte die Dirne, „Du mußt es ihm sagen – und jetzt gleich. Es muß ja ’was g’schehen –“

„Na, na – ich kann’s ihm jetzt net sagen, soviel derbarmt er mich. Und – es hat ja auch kein’ Sinn und kein’ Zweck. Aus ’m Höllbachgraben giebt’s kein Hilf’ und kein’ Rettung. Da kann ich mir net amal a Wunder denken. Denn wann er sich net schon derschmettert hat an die Felsen, so hat ihn das eisige Wasser derstickt. Glaub’ mir’s, Enzi, es is g’scheiter, ich sag’s ihm erst nach der Todtenmeß’, wann sich d’ Leut’ verlaufen haben.“

„Wie D’ meinst! Wie D’ meinst!“

  1. zerschlagen, gebrochen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 755. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_755.jpg&oldid=- (Version vom 20.12.2022)