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verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

zu halten und Brüderschaft mit ihm in seinem Elend zu machen. Es hat mir nichts geholfen. Er fühlt sich jetzt zu wohl und sicher in seiner Ausgestoßenheit und triumphirt aus ihr und der Verwesung uns an wie aus der festesten Burg dieser Welt.“

„Um zehn Uhr fällt meine Sprechstunde drunten am Brunnen,“ rief Doktor Hanff nach der Uhr sehend. „Sapperment, schon Dreiviertel auf Neun! da muß ich reiten, so gern ich hier noch ferner mit Rath und That zur Hand sein würde. Wirklich helfen zur Lösung könnte ich freilich meiner jetzigen Ansicht nach nur, wenn man mich sofort die nöthige Meldung an die nächstschreibende zuständige weltliche Gewalt ausrichten ließe. Nun, jedenfalls nehme ich für meine liebenswürdigen, aber leider nicht selten mit der Länge des Tages sich mühenden Promenade-Patienten ein recht interessantes Unterhaltungsthema mit hinunter. Werde unbedingt die mannigfaltigsten politischen, socialen, religiösen und ethischen Belehrungen aus den Betrachtungen der verehrten Damen und Herren schöpfen. Eine fatale Geschichte! wahrhaftig, eine nette Dorfidylle! Nun, ich empfehle mich wenigstens dem Frieden dieses Hauses und werde unbedingt morgen früh wieder vorsprechen. Küsse die Hand, Fräulein Phöbe. Sonsten ist meine Ansicht, ceterum censeo, wie der alte Meidinger, ne, der alte Cato sprach, – wiederhole Ihnen, Pastore, dringend meine Mahnung, frühzeitig genug auch ein wenig sich Ihrer selber zu erinnern und mir vorzüglich auf Ihre Leber zu achten. Herr Professor, es ist mir ein Vergnügen gewesen; – Sie wollen uns einige Zeit dort unten im Bad die Ehre schenken; nun, dann treffen wir ja jedenfalls noch öfter mit einander zusammen – sehr angenehm dann, mit Ihnen inmitten unserer Civilisation und auf der Höhe der Saison diesen mißlichen Kasus zu bereden. Vor allen Dingen und unter allen Umständen möglichste persönliche Behutsamkeit im Verkehr mit der Vierlingswiese, meine lieben Herrschaften.“

Er war fort. Wie es schien, hatte er in der That Eile, den aufregenden Unterhaltungsstoff seinen exotischen Bekanntschaften der bessern und besten Stände drunten im Bad so frisch als möglich zu überliefern. Das Pfarrhaus mit seinem Gaste war wieder allein, der grimmigen Thatsache gegenüber, daß der Räkel an der Leiche der Fee mit der Holzaxt und dem Revolver Wache halte.

„Nun möchte ich gehen, Prudens,“ sagte Phöbe leise.

Der Pfarrer hatte in das Gebüsch der Laube ihm zur Seite gegriffen und zerbrach einen kräftigen Stammast. Er hatte die Zähne auf die Unterlippe gesetzt, es zuckte ihm durch die Schultern, und nun sagte er rauh und kurz:

„Versuche Dein Heil!“

Er erhob sich schwankend und wie zerbrochen im grimmigen körperlichen Kampf mit dem Unmuth, dem Zorn in seiner eifernden, erfolgsbedürftigen Seele.

„Der Herr hat mein Wort und meinen Willen nicht gewollt. Ich will versuchen, ihn zu bitten, daß er Dir gnädiger sei, Schwester. Gehe, Kind!“

Er ging nicht wie ein Sehender; wie ein Blinder tastete er sich durch fröhliche Licht- und Schattenspiele des Sommermorgens auf dem Gartenpfade zum Hause zurück und verriegelte sich in seiner Stube. Wie weit und glänzend die Welt vor den Fenstern derselben ausgebreitet liegen mochte, sie hatte nur Angst und Bitterkeit für ihn; und was das Schlimmste war, er wendete ihr den Rücken im gekränkten Selbstgefühl, im gedemüthigten Stolz. Er haßte in diesem Augenblick den Räkel, über den der Vorsteher und das Dorf sich nur ärgerten, und zwar in respektvoller Scheu, nachdem sie vorher ihren Spaß an ihm gehabt hatten.

Der Gastfreund hatte dem Jugendfreund mit aufrichtigem Mitleid nachgeblickt, nun sah er wieder der Schwester desselben zu. Sie hatte den Bruder mit den Augen auch bis zu der Hauspforte begleitet, aber ohne Erregung und Bangen, und jetzt setzte sie mit ruhiger Hand die Tassen, Kannen und Teller des Frühstückstisches zusammen und faltete zierlich das grobe Tafeltuch. Systematisch-nonnenhaft und doch mit aller bedachtsamen Hausfrauenerfahrung und Geschicklichkeit ordnete sie Alles in einem Handkorbe, trug denselben ins Haus und kam mit gleichruhigem Schritt im leichten Strohhut zurück und zeigte erst dann einige Betroffenheit, als sie den Gast mit seinem Hute in der Hand an der Gartenpforte zu ihrer Begleitung wartend fand.

„O nein! … ich bitte; doch lieber nicht!“ sagte sie. „Der Herr Doktor hat uns eben ja noch einmal anempfohlen, ja recht vorsichtig zu sein.“

„Und deßhalb wollen Sie die Ehre dieser Gefahr allein für sich behalten, oder sie nur mit Prudens theilen, Phöbe?“

„O nein. Und da ist auch keine Ehre. Es ist nur unrecht, daß sich Einer unnöthiger Weise in Gefahr begiebt, der vielleicht seine Verpflichtungen gegen so viele liebe Verwandte und Freunde in seinem Leben hat und morgen weit weg ist von dem armen Fuchs und seinen Kindern, während mein Bruder, und der Herr Doktor, und der Vorsteher, und das Dorf und ich bei ihnen bleiben und mit ihnen weiter leben und, wenn es Gottes Wille ist, um sie her krank werden.“

Veit von Bielow schüttelte melancholisch lächelnd den Kopf.

„Meine Familienverbindungen sind mir kein Hinderniß, Fräulein Phöbe. Ich trage zwar einen vielverbreiteten Namen, und Manche nennen mich Kousin oder Herr Vetter, aber ob sie eigentlich ein Recht dazu haben, hat kein Stammverwandtschaftshistoriograph ganz unzweifelhaft ins Klare gebracht. Jedenfalls habe ich nicht Eltern noch Geschwister und darf mich also als meiner Familie Letzten rechnen. Und meine guten Freunde draußen in der Zeitlichkeit hindern mich auch nicht, Ihnen den Volkmar Fuchs durch meine Ueberredungsgabe auf bessere Wege bringen zu helfen. Was das Uebrige anbetrifft, so habe ich aus touristischer Wißbegierde oder, wenn Sie lieber wollen, aus Neugier die Pestspitäler zu Damaskus und die Moschee der Aussätzigen in Kairo besucht; und glauben Sie mir, liebes Fräulein, der Vorsteher verläßt sich fest darauf, daß ich sein Dorfgespenst auf der Vierlingswiese mit beschwöre und mit versuche, dem Fuchs den Sarg für seine arme Fee annehmbar zu machen.“

„Ich weiß nicht, was ich Ihnen noch sagen könnte,“ sprach Phöbe leise. „Ich wußte gestern noch nichts von Ihnen, und nun sind Sie mir wie ein alter Bekannter; und ich weiß auch nicht, ob Gott Sie nicht deßhalb gerade jetzt zu uns gesendet hat, um uns in unserer Schwäche zu helfen, und ob es keine Vermessenheit von mir wäre, gegen seine Güte und Weisheit mich zu wehren.“

Sie schritten schon Seite an Seite aus dem Schatten, den die Kirche auf sie und den versunkenen Dorfgottesacker warf, in die Sonne des Sommertages. Der aber, welcher in diesem Augenblick noch Sinn und Gefühl für die Außenschönheit der Welt haben konnte und hatte, würde es für eine Heiligthumsentweihung gehalten haben, das stille sichere Herz, das auf diesem Wege neben ihm pochte, auch auf die große, schöne Gleichgültigkeit der Natur aufmerksam zu machen.

Durch den letzten Thau des Morgens gehend dachte er nur bei sich selber:

„Und demnächst werden sie nun drunten vor dem Kurhause und an dem Brunnen den Landphysikus Doktor Hanff von dieser Geschichte erzählen hören, und dieselbe wird ihnen unzweifelhaft sehr interessant sein und vielleicht auch Valerie zum Hinhorchen, über ein Zeitungsblatt oder über die Unterhaltung im näheren Kreise der Bekanntschaft weg, veranlassen.“


10.

Sie redeten nicht weiter miteinander, Veit und Phöbe; weder zwischen den Gärten, noch unter der Schutzwand vereinzelter hoher Bergtannen, die, wie wir wissen, die Vierlingswiese von dem Dorfe trennte. Als wir diese Tannen gestern mit den Beiden durchschritten, leuchtete die Abendsonne um die braunen Stämme, und nun der helle klare Tag.

Mit der Wiese hatten sie des Räkels und der Fee letzte Haushaltung am Rande des wirklichen Waldes gleich vor sich, wie wir ebenfalls schon wissen; und schön und duftend und glanzvoll war der Platz um diese Stunde, das mußte man ihm lassen.

Kaum vernehmlich rieselte der kleine Bach zwischen seinen Kressen und Vergißmeinnicht und durch das hohe Gras, und gurgelte nur hie und da leise verdrossen um einen Stein im moorigen Grunde. Im Grase hüpfte und zirpte es, und unzählbares Leben freute sich der Sonne und der heißen Luft. Die Schmetterlinge flatterten über den Blumen und tauchten ihre Saugrüssel in einen Honigkelch nach dem andern. Ob sie sich darum neideten und stritten wie Menschen, können wir nicht sagen; aber daß sie sich wie Menschen im zierlichen Liebesspiel, aufsteigend zum Blau und niederfallend ins Grün, umtanzten in den heißen Lebenslüften, das war unzweifelhaft.

Und der dunkle, böse Fleck in all dem Licht und Leben?

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