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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

wunderlichen Eindruck, besonders wenn man statt des Dornröschens, welches man hier schlummermd zu finden meinte, eine sehr alte Frau im Lehnstuhle am Fenster erblickte, unermüdlich beschäftigt, aus farbigem Seidenpapier Blätter und Blättchen zu bilden und an einander zu fügen, bis endlich eine Rose am Drahtstengel schwankte, von Weitem so natürlich anzusehen, als wäre sie eben vom Stocke gebrochen. Tante Rosalie konnte nicht leben, ohne Rosen zu machen; sie verschwendete die Hälfte ihres bescheidenen Einkommens in Seidenpapier, und wem sie irgend wohl wollte, der erhielt einen Rosenkranz zum Präsent, rothe, rosa, weiße und gelbe Blumenkelche, geschmackvoll durch einander gemischt. Sämmtliche Dorfschönen trugen auf dem sonntäglichen Tanzboden Rosen des alten Fräuleins Kruse im stark pomadisirten Haare; die Gräber des Friedhofes zeigten in Menge von Sonne und Wind zerzauste, weiße und purpurne Rosen derselben Fabrikation auf; die kleine Kirche ward alljährlich zum Johannisfeste von der alten Dame verschwenderisch mit diesen ihren Erzeugnissen geschmückt, wobei sie ganz besondere Sorgfalt auf den Kranz verwendete, der die Dornenkrone des Heilands zu zieren bestimmt war. Das mußten dunkelrothe Rosen sein, so roth wie das Blut, das Er vergossen. Darauf hielt sie.

Kein Weihnachtsbaum prangte im Dorfe, an dem nicht ihre Rosen zwischen den Kerzen hervorleuchteten, und keine Hochzeit fand statt, bei der nicht über der Stubenthür des jungen Paares Tante Rosaliens Blumengruß prangte.

Sie war im Dorfe bei Jung und Alt denn auch nur als „Rosentante“ oder „Rosenfräulein“ bekannt und beliebt, und nicht selten wurde sie auf ihren Spaziergängen von einer Schar Kinder, besonders Mädchen, verfolgt mit der Bitte, „mek ok ’ne Rose, mek ok ’ne Blaume!“ Und die Rosentante war stets darauf eingerichtet; die weniger gelungenen Exemplare wurden zu diesem Zwecke freigebig aus dem riesenhaften Pompadour hervorgeholt und vertheilt.

Franz Linden hatte sich längst daran gewöhnt, zuweilen ein Stündchen in Gesellschaft der alten Dame hinzubringen. Bei ihrem Anblicke kam unwillkürlich etwas von dem Frieden, der sie umgab, auch auf ihn, und das that ihm wohl. Sie saß dann still und ruhig hinter ihrem Tischchen und die feinen welken Hände bildeten emsig des „vollsten Lebens Attribute“. Nach und nach hatte sie ihm in wunderlich feierlicher Weise von den Schicksalen erzählt, die sich unter dem alten spitzen Ziegeldache dieses Hauses abgespielt. Es waren wenig Lichtpunkte darunter und viele Schatten, viel Schuld und menschlich Irren; ein düster Stück Erdenleben. Ein Ehepaar, das nicht zusammen gepaßt, ein einziges Kind, von Beiden vergöttert, und dieser einzige Sohn bedeckte sich und sein Elternhaus mit Schande und floh bei Nacht und Nebel nach Amerika, wo er verkommen. Ohne Licht und Stern waren die Eltern zurückgeblieben, jedes dem andern Vorwürfe machend über die verfehlte Erziehung. Dann starb die Frau vor Gram, und nun begann eine endlose Spanne der Einsamkeit für den alternden Mann, im Banne des Mißtrauens und der Menschenverachtung; Niemand zugethan als seinen Hunden, mit Niemand verkehrend, als mit jenem Menschen, dem Wolff, der ihm Nachrichten und Klatsch aus der Stadt überbrachte; und selbst diesen mit einer an Beleidigung streifenden Mißachtung behandelnd. „Aber sehen Sie, lieber Neffe,“ hatte die Erzählerin hinzugefügt, „es giebt Menschen, die hündischer sind als die Hunde; ein solches Vieh schreit doch, wenn es getreten wird, aber die Art, zu denen er gehört, lächelt noch verbindlich beim derbsten Fußtritt – und so einer war nöthig für den Wilhelm.“ –

Es schneite, auf den Bergen war es weiß, der Garten lag unter leuchtender Schneedecke, und in der Luft tanzten weiße Flocken. Franz Linden war mit dem Verwalter von der Jagd zurückgekommen und ging nach beendeter Mahlzeit zu der Tante ins Rosenstübchen. Sie stand heute auf, als er hereintrat, und kam ihm entgegen.

„Sehen Sie, lieber Neffe, so geht’s, wenn man einmal nicht zu Hause. Sie sollten Besuch bekommen, so einen ganz superfeinen neumodischen, im prächtigen Schlitten. Ich machte just meine Promenade auf dem Korridor, da kam er die Treppe herauf, und hier“ – sie faßte in den Pompadour – „ist seine Karte, die er überflüssiger Weise daließ.“

Franz nahm die Karte und las: „Arthur Fredrich. – Das thut mir leid,“ sagte er, lebhaft bedauernd. „Wann war er hier?“

„O, just um Mittag herum, wo andere Christenmenschen essen, Punkt zwölf Uhr,“ erwiderte sie. „Und dann war noch der Briefträger da und brachte ein Schreiben für Sie, lieber Neffe. Ja – mein Gott, wo ist es denn nur? Wo habe ich es denn hingelegt?“ Und sie wandte sich um, und die kleine gebeugte Gestalt begann eifrig zu suchen; zuerst auf dem Tischchen mit dem Blumenpapier, dann an der Erde, von dem jungen Manne unterstützt.

„Wie sah denn der Brief aus, liebste Tante?“

„Blau – oder grau – ich glaube blau,“ antwortete sie außer Athem und durchstöberte den rothseidenen Pompadour. Eine Menge Rosenknospen holte sie heraus und ein spitzenbesetztes riesenhaftes Schnupftuch, sonst nichts.

„War der Brief denn klein oder groß?“ fragte er hinter dem Sofa hervor.

„Groß und dick,“ ächzte Fräulein Rosalie. „Das ist mir noch nicht passirt, das ist mir höchst fatal!“ Und mit erstaunlicher Beweglichkeit hantirte sie an dem schwindsüchtigen kleinen Spinett und klappte uralte Notenhefte aus einander.

„Vielleicht in den Ofen gekommen, Tantchen?“

„Nein, nein! Er ist seit heute früh zugeschroben.“

Franz Linden ging zum Glockenzuge und schellte. „Suchen Sie nicht mehr, liebe Tante, das Schreiben muß sich finden, das Mädchen kann es ja besorgen.“

Dörte kam und suchte und suchte, hinter alle Schränke wurde geleuchtet, hinter jeden Vorhang gesehen – vergebens.

„Nun wollen wir es aufstecken,“ erklärte Franz Linden endlich. „Ich denke mir, es ist ein Brief von meiner Mutter oder vom Amtsrichter – da wird es ja zu erfragen sein, was sie wollten. Trinken wir unsern Kaffee, Tantchen!“

„Ich kann nächtelang nicht schlafen!“ betheuerte die alte kleine Frau aufgeregt.

„Aber ich bitte Sie,“ wandte er gutmüthig ein, „es ist sicher nichts Unersetzliches darin gewesen. Erzählen Sie mir lieber ein wenig, das Wetter ist just so behaglich dazu.“

Aber das runzlige Antlitz unter der großen Haube blieb verdrießlich, und über die Kaffeetasse hinweg schweiften die alten Augen immer wieder suchend im Zimmer umher und blieben wie nachdenkend an dem grünen Schirm der Lampe haften. Es war schlechterdings kein Gespräch mit ihr fortzuspinnen. Nach einem Weilchen erhob sich der junge Mann, um sein Zimmer aufzusuchen.

„Ja, gehen Sie nur, gehen Sie nur,“ sagte sie erleichtert, „nun kann ich darüber nachdenken, was ich angefangen habe mit dem Briefe. Ach, mein Gedächtniß, mein Gedächtniß! Man wird so alt!“

Er schritt den Korridor entlang und stieg die Treppe hinauf in den oberen Stock; die Dämmerung des kurzen Wintertages lag schon in allen Winkeln und Ecken; es war so todtenstill im Hause, nur der Hall seiner eigenen Schritte klang in sein Ohr. So ein Tag, von dem sein Freund gesprochen, entsetzlich einsam und leer spann er sich aus über diesem weltfernen Hause. Man kann nicht immer lesen, nicht immer sich beschäftigen, besonders wenn die Gedanken unruhig hinausflattern über Wald und Feld – immer nach einem bestimmten Ziel, und immer zurückkehren, zweifelnd und bangend.

Er stand in seinem Zimmer am Fenster und verfolgte das Treiben der Schneeflocken in der dunkelnden Luft, und er dachte dasselbe wie alle Tage während der letzten Wochen, er dachte sich so hinein, daß er deutlich einen leichten Tritt hinter sich auf dem Teppich zu hören meinte und den kosenden Klang einer Frauenstimme „Franz, Franzi!“ – Er wandte sich und schaute in das dämmerige Zimmer zurück. Wenn sie jetzt die Thür öffnete, wenn sie hereinkäme, das Kind auf dem Arme, herüber zu ihm? Warum sollte es nicht sein, warum könnte es nicht werden? Waren diese Mauern nicht fest, diese Räume nicht heimlich und traut genug, ein Glück zu bergen?

Er begann auf und ab zu gehen. Thorheit! Unsinn! Was wollte er denn? Wäre er nie hierher gekommen, oder wäre sie doch tausendmal lieber die Tochter des Werkführers, wie ihre Großmutter, und säße vor dem kleinen Hause auf der Bank unter dem Hollunderbaume, es würde dann so einfach sein! Für die Welt mochte er nicht den tollen Wettlauf mitmachen, den man um Trudchen Baumhagen’s Geldsäcke wagte und immer wieder wagte. Aber ihre holde Freundlichkeit – ?

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_370.jpg&oldid=- (Version vom 3.11.2021)