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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

bereits gewichen, die Laternen spiegelten sich in den Pfützen der Straße, die Schaufenster waren hell erleuchtet und vom Benedikti-Thurm dröhnten fünf lange Glockenklänge.

Er bog um die Hôlelecke in die nächste Gasse und schlenderte langsam hin auf dem schmalen Trottoir, die Läden musternd, die sich auf Rechnung des nahen Weihnachtsfestes mit allem Neuen und Neuesten herausgeputzt hatten.

„Guten Abend!“ sagte plötzlich eine schüchterne Stimme hinter ihm. Er wandte sich um; im ersten Momente erkannte er die Frau nicht, die, das Trageholz auf den Schultern, an dessen rothen Lederriemen und blitzblanken Messinghaken zwei große schneeweiße Eimer hingen, schüchtern vor ihm stand. Dann wußte er’s, es war Frau Johanne. „Ich wollte nur vielmals danken,“ begann sie, „der Herr Küster hat mir das Geschenk gebracht für den Kleinen.“

„Und geht es denn meinem Pathchen gut?“ fragte er, neben der Frau herschreitend und rasch entschlossen, um jeden Preis etwas von „ihr“ zu erfahren.

„Ach, ich danke, Herr Linden; es ist ein schwächliches Kind – der Gram hat ihm wohl geschadet. Aber wenn der Herr es einmal sehen wollen – so gar weit ist es nicht mehr, und ich gehe jetzt nach Hause.“

„Das versteht sich!“ sagte er und ließ sich im Weiterschreiten erzählen, daß sie Milchfrau bei Oekonomieraths sei und zweimal des Tages die Milch austrage.

„Kommt das Fräulein manchmal – nach dem Pathchen zu sehen?“

„Ei freilich!“ erwiderte die Frau, „sie kommt und – es ist kein Kleidchen und kein Röckchen, das der Junge nicht von ihr hat; sie ist so sehr gut, das Fräulein Trudchen; wir sind auch zusammen konfirmirt,“ setzte sie stolz hinzu.

Also Trudchen hieß sie!

Es war doch ein ziemlich weiter Weg durch Gassen und Gäßchen, bis die Frau erklärte, hier sei sie daheim. „Es ist Licht drinnen – vielleicht die Mutter, weil der Junge aufgewacht ist. „Meine Mutter wohnt oben,“ erläuterte sie, „der Vater ist Schuhmacher.“

Es war ein so niedriges Parterre, daß ein Kind bequem ins Fenster hätte blicken können, und so übersah er leicht das Innere der kleinen Stube.

„Bleiben Sie!“ flüsterte er und hielt die Frau am Arme.

„Ach Gott – das Fräulein!“ rief diese, „wenn sie nur nicht böse wird!“

Aber Franz Linden antwortete nicht, er sah nur die schlanke Mädchengestalt, wie sie in dem niedrigen Gemache mit dem weinenden Kinde im Arme auf- und abging, ihm zusprach, es tanzen ließ, bis es endlich zu schreien aufhörte, ein Weilchen ernsthaft in das schöne Gesicht blickte und zu jauchzen begann.

„Siehst Du, kleiner dummer Schatz,“ tönte die klare Mädchenstimme in sein Ohr, „siehst Du, wer es gut mit Dir meint, wenn Du hier so allein und bloßgestrampelt liegst und Deine Mutter bei Wind und Wetter von Haus zu Haus gehen muß? Du böser Junge, Du Schreihals, kannst Du auf Deinen Namen schon hören? Wie heißt Du? Franz – Franzi? So groß ist der Junge! Jetzt komm einmal her und schreie nicht, Du sollst das warme Kleidchen schon anhaben, wenn Deine Mutter kommt.“ Und sie setzte sich an den Ofen und begann dem Kinde das rothe Barchentröckchen auszuziehen.

„Fragen Sie, Frau Johanne, ob ich hineinkommen darf!“ bat Linden. Und im nächsten Momente war er doch schon hinter der Frau in das Zimmer getreten.

Ueber das Gesicht des jungen Mädchens flog etwas wie schämige Gluth, aber sie reichte ihm unbefangen die Hand hin. „Ich freue mich, Herr Linden, daß ich Sie noch sehe – Mama bedauerte heute Mittag sehr, Sie nicht empfangen zu können. Sie –“

Er machte eine Verbeugung. Also zu irgend einem Hause, wo er heute gewesen gehörte sie? Aber zu welchem?

„Denken Sie nur, ich weiß erst seit heute, daß Sie uns so nahe wohnen,“ fuhr sie heiter fort. Und den Kleinen der Mutter übergebend, die eben die Fensterläden geschlossen, setzte sie hinzu: „ich stand gerade im Erker, als Sie über den Markt kamen, und sah, wie Sie sich nach unserer Wohnung erkundigten.“

„So habe ich die Ehre – Fräulein Baumhagen –?“ sagte er, halb und halb peinlich berührt.

„Gertrud Baumhagen,“ bestätigte sie, „warum sehen Sie so erstaunt aus?“

Sie nahm bei diesen Worten ihr Mäntelchen vom nächsten Stuhle, drückte eine kleine Pelzmütze auf den braunen Scheitel und ergriff einen Muff. „Ich muß nun fort, Johanne, aber ich schicke Dir morgen den Doktor für den Kleinen. Sieh, das darf nicht so hingehen. Du mußt besser darauf achten, sonst kann er lebenslang schwache Augen behalten.“

„Gestatten Sie. daß ich Sie begleite?“ fragte Linden, die anmuthige Gestalt nicht aus den Augen lassend. Das also war Gertrud Baumhagen!

Sie nickte. „Ich fürchte nach zwar nicht, aber ich denke, Sie finden sich niemals wieder aus diesem Labyrinth von Straßen, in welches die gute Johanne Sie gelockt. – Hier herum ist es noch völlig die uralte Stadt; heute Abend zwar bemerken Sie nichts davon, aber am Tage lohnt sich wohl ein Gang durch diesen Theil. Ich habe die Gegend gern, obgleich hier nur geringe Leute wohnen,“ plauderte sie weiter, indem sie fest und sicher über das holperige Pflaster schritt. „Sehen Sie dort unten an der Ecke das Haus mit vorgebautem Sandsteintreppchen und der Bank unter dem kahlen Baume? Aus dem Hause stammt meine Großmutter, und der Baum ist ein Hollunderstock. Großvater hatte sich in sie verliebt, als sie eines Abends auf dem Bänkchen dort saß und ihr jüngstes Brüderchen wiegte. Sie hat es mir so oft erzählt; der Hollunder habe gerade geblüht und sie sei achtzehn Jahre alt gewesen. Ist es nicht ein Stückchen echter Poesie?“ Dann lachte sie leise. „Aber ich erzähle Ihnen da so viel, und weiß gar nicht, wie Sie über solche Sachen denken.“

Sie waren just vor dem schmalen Hause mit dem Hollunderstocke angekommen. Er blieb stehen und sah empor. Sie bemerkte es und sagte: „Ich kann nie vorüber gehen, ohne daß mir ein guter Gedanke kommt, eine traute Erinnerung. Eine herzlichere Großmutter gab es nicht, so einfach und so gut.“ Und als er schwieg, setzte sie wie erläuternd hinzu: „sie war eine Enkelin des Werkmeisters in Großvaters Fabrik.“

Er fand noch immer kein Wort, und irgend eine banale Phrase hätte er nicht aussprechen können.

Auch sie blieb ein Weilchen stumm. „Darf ich Sie bitten,“ begann sie dann, „dem Kleinen nicht allzu große Geschenke zu machen; es sind einfache Leute, man kann sie zu leicht verwöhnen.“

Er stimmte zu. „Unsereiner ist darin so unpraktisch,“ entschuldigte er: „ich wußte nicht so recht, was ich nun zu thun habe, nachdem ich mich zudringlicher Weise zum Pathen angeboten.“

„Das war keine Zudringlichkeit, das war Menschenfreundlichkeit, Herr Linden.“

„Gerade in Ihren Augen glaubte ich etwas zu rasch – zu –“ er stockte.

„O nein, nein,“ unterbrach sie ihn ernst, „was denken Sie von mir! Ich kann gar wohl unterscheiden, was echt und unecht. Es hat mich ehrlich gefreut,“ klang es zögernd nach.

„Ich danke Ihnen,“ sagte er.

Und nun schritten sie schweigend weiter durch die Straßen. Vor einem Blumenladen hinter dessen großen Spiegelscheiben ein lockender Flor von Rosen. Veilchen und Kamelien glühte, blieb Trudchen Baumhagen stehen.

„Hier trennen sich unsere Wege,“ sagte sie und reichte ihm die Hand; „ich habe hier drinnen zu thun. Leben Sie wohl, Herr – Gevatter!“

Er hatte den Hut abgenommen und ihre Rechte ergriffen. „Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein.“ Und zögernd fragte er noch: „Sie sind auch beim heutigen Feste?“

„Ja,“ nickte sie, „auf höheren Wunsch,“ und ihre blauen Augen schauten ihn still an. Es war nichts darin zu lesen von Jugendlust und freudiger Erwartung. „Mama wäre untröstlich, hätte ich mich ausgeschlossen. Gute Nacht, Herr Linden!“

Der junge Mann blieb draußen, während sie hinter der Ladenthür verschwand. Einen Moment wartete er noch. dann ging er weiter.

Also das war Gertrud Baumhagen! Es berührte ihn förmlich unangenehm, daß sie so hieß, er hatte von vorn herein ein Vorurtheil gefaßt gegen diesen Namen, er war ihm gleichbedeutend mit kleinstädtischem Protzenthum. Die Unterhaltung an der Wirthstafel kam ihm in Erinnerung. Er hatte sich eine

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