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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

zufällig Halt gemacht hatte. Drei mächtige Stockwerke thürmten sich auf einander; über der großen spitzbogigen Hausthür erhob sich ein zierlicher Erkerbau, der sich durch alle Etagen fortsetzte, um als stattlicher Thurm, sein Haupt mit einer Windfahne geschmückt, in den blauen Oktoberhimmel aufzuragen. In der Bel-Etage zeigten die durch Säulen getheilten Erkerfenster alterthümliche Butzenscheiben, jedenfalls war man dort „stilvoll“ eingerichtet. Im zweiten Stock aber schimmerten reiche Spitzengardinen hinter klaren hohen Glasscheiben, und ein Flor von Fuchsien und Nelken grüßte und nickte von den außen angebrachten Blumenbrettern herunter. Nur noch ein holdes Mädchenantlitz darüber, und das lieblichste Bild wäre gegeben.

Aber es zeigte sich nichts dergleichen, und noch einen Blick auf das kunstvolle Eisengeländer der Treppe werfend, wandte sich der aufmerksame Beschauer ab und schritt quer über den Markt dem Hôtel zu, um Mittag zu speisen. Da es schon eine späte Stunde, war er der einzige Gast in dem hübschen großen Speisesaal. So aß er ziemlich rasch und begann von Neuem die Straßen der Stadt zu durchwandern.

Hinter dem Rathhause kam er in ein Gewirr von engen und engsten Gäßchen, trat dann aber unter einem gewölbten Bogen unversehens hervor auf einen Platz, umstanden von hohen, halb entblätterten Lindenbänmen, welche ernst und feierlich eine mächtige Kirche zu bewachen schienen. Es war, als ob hier alles Leben erstorben sei, nur einige Kinder spielten zwischen dem welken Laube und eine alte Frau humpelte nach einem sonnigen Eckchen, sonst tiefste Ruhe rings umher.

Eine Seitenthür der Kirche stand geöffnet; er ging hinüber und trat ein in die schweigende Dämmerung des Gotteshauses; er nahm den Hut ab und betrachtete, überrascht von der edlen Einfachheit dieses Baues, die schlanken, doch kraftvoll aufstrebenden Pfeiler und das reiche Netzgewölbe des Chores. Dann schritt er den Mittelgang empor, zwischen den altersbraunen, kunstvoll geschnitzten Kirchenstühlen. Er freute sich darüber; er besaß lebhaftes Interesse für die schönen Formen der Renaissance, und er freute sich doppelt, weil er Aehnliches hier gar nicht gesucht. Dann hielt er plötzlich seine hallenden Schritte an; – dort am Taufsteine, über welchem mit ausgebreiteten Flügeln die weiße Taube schwebte, erblickte er drei Frauen. Zwei derselben schienen geringen Standes, die Aeltere, vermuthlich die Hebamme, hielt den Täufling in beständig schaukelnder Bewegung, die Andere, im einfachen schwarzen Wollenkleide und Umschlagetuch, ein junges Weib, schaute mit verweinten Augen auf das Kind, eine Dritte hatte sich herniedergebeugt zu demselben; der Kirchendiener, der eben das Wasser in das Taufbecken goß, verdeckte sie augenblicklich völlig, und Linden sah nur die Schleppe eines dunklen seidenen Kleides auf dem Sandsteinboden.

Und jetzt tönte eine weiche biegsame Frauenstimme in sein Ohr: „Weinen Sie nicht soviel, meine gute Johanne, Sie werden noch recht viel Freude haben an dem kleinen Würmchen – weinen Sie doch nicht! – Lieber Engelmann, benachrichtigen Sie den Herrn Oberprediger – meine Schwester scheint nicht zu kommen, sie wird Abhaltung haben; wir wollen nicht länger warten.“

Die Sprecherin wandte sich nach der Mutter, und Franz Linden sah nun voll in ein junges Mädchenantlitz. Ja, es war nicht eigentlich schön, dieses schmale Oval, von goldig braunem üppigen Haare überschattet, zu blaß der Teint, zu traurig der Ausdruck, den die etwas herabgezogenen Mundwinkel noch verschärften, aber unter den fein gezeichneten wenig geschwungenen Brauen sahen ein Paar tiefe blaue Augen ihn an, klar wie die eines Kindes, bittend und fragend, wie Frieden heischend für die heilige Handlung.

Es mochte wohl oft vorkommen, daß Fremde in die schöne Kirche eintraten und dadurch Störung veranlaßten – so glaubte wenigstens Franz Linden den Blick zu verstehen. Athemlos still verharrte er nun an den alten Kirchenstuhl gelehnt, und seine Augen folgten jeder Bewegung der schlanken Mädchengestalt, wie sie jetzt das Kind in die Arme nahm und zu dem Geistlichen trat.

„Herr Oberprediger,“ klang die weiche Stimme, „Sie müssen mit einem Taufzeugen vorlieb nehmen, meine Schwester ist leider ausgeblieben.“

Der Geistliche hob den Kopf. „Dann könnten Sie wohl, liebe Schmidt“ – er winkte der älteren Frau zu.

Franz Linden stand plötzlich vor dem Taufsteine neben dem jungen Mädchen; er wußte selbst nicht, wie er so rasch dahin gekommen.

„Gestatten Sie mir diese zweite Pathenstelle,“ sprach er. „Ich kam zufällig in die Kirche, ein landfremder Mensch; ich möchte die erste Gelegenheit, in meiner neuen Heimath Christenpflicht zu üben, nicht versäumen.“

Er war einem momentanen Impuls gefolgt, und er wurde verstanden. Der greise Prediger nickte lächelnd. „Es ist ein armes, früh vaterlos gewordenes Kind, mein Herr,“ erwiderte er, „vier Wochen vor seiner Geburt verunglückte der Vater – Sie thun ein gutes Werk. – Ist es Ihnen, liebe Frau, recht?“ wandte er sich zu der Mutter. „Nun schön – Engelmann, so tragen Sie den Namen des Herrn Pathen in das Kirchenbuch ein.“

„Karl Max Franz Linden,“ sagte der junge Mann.

Und nun standen sie zusammen vor dem Prediger, die Beiden, die vor einer Viertelstunde noch keine Ahnung von einander gehabt; sie hielt das schlummernde Kind in den Armen, sie hatte nicht empor gesehen, das lebhafte Roth der Ueberraschung brannte noch auf dem zarten Gesichte und das einfache Spitzchen an dem Kissen des Täuflings zitterte leise.

Es waren nur wenig Worte, die der Geistliche sprach; wunderbar klangen sie nach in Beider Herzen. Linden sah herab auf das brauue, tief gesenkte Haupt neben sich, dann lagen zwei Hände auf dem ärmlichen Bettchen des Täuflings, zwei warme junge Menschenhände dicht neben einander, und von Beider Lippen kam ein helles klares „Ja“, die Frage des Geistlichen beantwortend. Als die Ceremonie vorüber, trug das Mädchen der weinenden Mutter das Kind zu und drückte einen Kuß auf das kleine rothe Gesichtchen, dann kam sie hinüber zu Linden, und ihre Augen blickten ihn an mit einem Gemisch von Verwunderung und Dankbarkeit.

„Ich danke Ihnen, mein Herr,“ sprach sie und legte einen Moment die schmale Hand in seine Rechte, „ich danke Ihnen im Namen der armen Frau – es war so gut von Ihnen!“

Dann ein unnachahmlich stolzes Neigen des kleinen Kopfes, und sie ging, leise umrauscht von der schweren Seide ihres Kleides. Dort unten an der Pforte im hellen Scheine des hereinbrechenden Tageslichtes sah sie noch einmal zu ihm hinüber, der regungslos am Taufsteine geblieben, um ihr nachzuschauen, es war, als senke sie nochmals grüßend das blasse Antlitz, dann war sie verschwunden.

Franz Linden war allein in der stillen Kirche zurückgeblieben. Wer mochte sie sein, die da eben neben ihm gestanden? Ein leises Klingeln ließ ihn sich umsehen; der Küster mit dem Schlüsselbunde trat aus der Sakristei.

„Sie wollen zuschließen, alter Freund?“ sagte er, „ich gehe schon.“ Dann, wie sich besinnend, kam er ein paar Schritte zurück. „Wer war die junge Dame?“ wollte er fragen, aber er brachte es nicht über die Lippen, er betrachtete nur angelegentlich die in glühenden Farben schimmernden Glasmalereien der hohen Fenster.

„Die sind einzig schön,“ lobte der Küster, „und werden immer sehr bewundert; das dort ist von 1511, der Auszug der Kinder Israels, ein Geschenk der Aebtissin Anna vom Schlosse droben. Sie soll, wie man sagt, eine Vorliebe für diese Kirche gehabt haben, ist auch die schönste weit und breit herum, unsere Benedikti-Kirche.“

Franz Linden nickte. „Da mögen Sie Recht haben,“ sagte er zerstreut. Dann händigte er dem Manne eine kleine Summe ein für den Täufling und schritt hinaus.

Bald darauf rollte sein Wagen der Heimath zu. Dunkel hoben sich die Umrisse des Gebirges vom leuchtend rothen Abendhimmel, und immer näher rückte der Kirchthurm von Niendorf. Es war nichts Fremdes mehr um ihn wie heute früh noch, das erste leise wonnige Bewußtsein des Heimathgefühles zog in sein Herz. Auf der Höhe wandte er sich noch einmal und sah nach der Stadt zurück, wie läugst bekannt grüßte ihn das alte Schloß – und horch! Da kam im Abendwinde ein verlorner Glockenklang herübergeweht; vielleicht vom Sankt Benedikti-Thurm?

(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_340.jpg&oldid=- (Version vom 21.12.2020)