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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

auch so gern, die von uns gegangen ist, um nie wieder zu kommen –“

„Sprich jetzt nicht davon, Hannchen!“ mahnte ihr Mann ängstlich. „Du sehntest Dich ja, in eine bequemere Lage gebracht zu werden, und deßhalb ist Fräulein Lamprecht gekommen, wie ich Dir schon sagte; sie will mir helfen, Dich umzubetten.“

„O, ich danke! Ich liege gut; und wenn ich bis jetzt in Nesseln gelegen hätte, ich glaube, ich würde es nicht mehr fühlen … Mir ist jetzt so wohl! Der Anblick des lieben, jungen Gesichts erquickt mich … Ja, ich hatte auch eine Tochter, jung und schön und ein Engel an Herzensgüte. Aber ich war wohl zu stolz auf dies Gottesgeschenk, und dafür –“

„Aber Hannchen,“ unterbrach sie der alte Mann in sichtlicher Angst. „Du darfst nicht so viel sprechen! Und Fräulein Lamprecht wird sich nicht so lange bei uns aufhalten können –“

„Ich bitte Dich, lasse mich reden!“ rief sie heftig erregt. „Mir liegt ein Stein auf der Brust, und der muß heruntergesprochen werden.“ … Sie schöpfte tief und schwer Athem. „Kannst Du Dir nicht selbst sagen, daß eine unglückliche Mutter auch einmal die traurige Wonne genießen will, vor Anderen von ihrem todten Liebling zu sprechen? … Sei unbesorgt, Ernst, Du Guter, Getreuer!“ setzte sie beherrschter hinzu. „Hat mich nicht schon der Besuch des Herrn Landraths gestern halb gesund gemacht? … Ich konnte ihn freilich noch nicht sehen und sprechen; aber gehört habe ich Alles, was er Dir drüben sagte. Er glaubt an uns, der edle Mann, und da war jedes gute Wort Heilung für mich.“

Sie zeigte auf ein Porcellanbildchen in Ovalform, das über ihrem Bette hing. „Kennen Sie diese?“ fragte sie, und ihr Blick richtete sich fast verzehrend auf das Gesicht der jungen Dame.

Margarete trat näher. Ja, diesen Kopf mit den thaufrischen Lippen, den cyanenblauen Augen und der güldenen Glorie einer mächtigen Haarfülle über der Stirn, diesen hinreißend schönen Kopf kannte sie! –

„Die schöne Blanka!“ sagte sie bewegt. „Ich habe sie nie vergessen! An jenem Abend, wo mich Herr Lenz auf seinem Arm hier heraufgetragen hat, da hing das Haar, das auf dem Bilde als Flechte über die Brust fällt, gelöst und glitzernd wie ein Feenschleier über ihren Rücken hinab.“

„An jenem Abend,“ wiederholte die Kranke aufseufzend, „ja, an jenem Abend, wo sie sich mit ihrem stürmisch bewegten Herzen ins Dunkel geflüchtet hatte! O, über die ahnungslosen Eltern!“ brach es von ihren Lippen. „O, über die blinde Mutter, die ihr Lamm nicht zu hüten verstanden hat!“

„Hannchen!“

Die alte Frau beachtete den Einwurf und die flehentlich bittende Miene ihres Mannes nicht.

„Geh’, mein liebes Kind,“ wandte sie sich an den kleinen Max, der am Fußende des Bettes saß. „Geh’ in die Küche zu Philine! Hörst Du sie winseln? Sie will herein, und der Arzt hat’s doch verboten!“

Der Knabe stand gehorsam auf und ging hinaus.

„Ist er nicht ein gutes, schönes Kind?“ fragte die Kranke aufgeregt, und in ihren Augen funkelten Thränen. „Müßte nicht jeder Vater stolz sein, ein solches Himmelsgeschenk zu besitzen? O, und er –“ Ob er wohl der himmlischen Seligkeit theilhaftig wird, der seines Sohnes Ehre und Lebensglück ins Grab mitgenommen hat?“

„Ich bitte Dich, liebe Frau, sprich nicht mehr! Nur heute nicht!“ bat der alte Mann inständigst – er zitterte sichtlich an allen Gliedern. „Ich werde Fräulein Lamprecht bitten, uns morgen noch einmal zu besuchen, dann wirst Du kräftiger und ruhiger sein.“

Die Kranke schüttelte schweigend, aber energisch verneinend den Kopf und ergriff mit der Rechten Margaretens Hand. „Wissen Sie noch, was ich Ihnen sagte, als Sie mir versicherten, daß Sie unseren Max lieb hätten und seinen Lebensgang im Auge behalten würden?“

Margarete drückte die Hand sanft und beruhigend. „Sie sagten, die veränderten Verhältnisse wandelten oft eine Ansicht ganz plötzlich, und wer könne wissen, ob ich nach vier Wochen noch so dächte, wie in jenem Augenblicke. … Nun denn, die Beziehungen zwischen uns haben sich bereits geändert, wie man mir sagt – in wie fern dies geschehen ist, weiß ich freilich noch nicht; indeß, mag sie doch sein, welcher Art sie will, was hat denn diese Wandelung mit meiner Vorliebe für das Kind zu schaffen? Wird es dadurch weniger liebenswerth? … Aber nun möchte auch ich herzlich bitten, sprechen Sie heute nicht mehr! – Ich will jeden Tag zu Ihnen kommen, und Sie sollen mir Alles sagen, was Ihnen das Herz erleichtern kann.“

Die alte Frau lächelte bitter. „Man wird Ihnen die Besuche bei der verhaßten Familie vielleicht heute schon, nach Ihrer Rückkehr verbieten.“

„Ich gehe einen Weg, der für die Anderen nicht existirt. Ich bin auch heute über Ihren Hausboden gekommen.“

Die Augen der Kranken öffneten sich weit in schmerzlicher Aufregung. „Den Unglücksweg, auf den mein armes Lamm gelockt worden ist?“ rief sie leidenschaftlich. „Ach ja, da ist sie mir zu Häupten hingegangen, und die Mutter, die ihr Herzblut hingegeben hätte, um die Seelenreinheit ihres Kindes zu bewahren, sie ist blind und taub gewesen, sie hat geschlafen wie die thörichten Jungfrauen in der Bibel. … Ich habe ihn nie betreten, den unheilvollen Gang, durch den die weiße Frau Ihres Hauses wandeln soll; aber ich weiß, es ruht ein Fluch auf ihm, und sie, mein Abgott, ist daran zu Grunde gegangen. … Gehen Sie ihn nicht wieder!“

„Das soll mich nicht abhalten – ich gehe ihn ja in Ausübung der Nächstenpflicht!“ sagte Margarete mit unsicherer Stimme und stockendem Athem. Ihr war, als sähe sie plötzlich in eine geheimnißvolle, dunkle Tiefe hinein, aus welcher bekannte Umrisse aufdämmerten.

„Ja, Sie sind gut und barmherzig wie ein Engel; aber Sie können bei allem guten Willen über menschliches Ermessen auch nicht hinaus!“ rief die Kranke, indem sie sich mit gewaltsamer Anstrengung in den Kissen aufrichtete. „Auch Sie werden uns schließlich verurtheilen, wenn Sie hören, daß wir Ansprüche erhoben haben, ohne die Beweise dafür erbringen zu können! … O guter Gott, nur einen einzigen Lichtstrahl in dieser qualvollen Finsterniß! … Man wird uns hinausjagen, und Blanka’s Sohn wird nicht wissen, wohin er sein Haupt legen soll, dem sie ihr junges Leben hat hinopfern müssen!“

Mit völlig entfärbten Lippen ergriff Margarete die Hand der alten Frau. „Nicht diese halben Andeutungen,“ bat sie, mühsam die eigene furchtbare Aufregung bemeisternd, die ihr Herz stürmisch klopfen machte und ihr fast den Athem raubte. „Sagen Sie mir unumwunden, was Ihnen das Herz belastet. Sie sollen mich ruhig finden, mögen diese Enthüllungen sein, welcher Art sie wollen!“

Der alte Maler bog sich hastig über die Kranke und flüsterte ihr einige Worte ins Ohr.

„Sie soll es noch nicht erfahren?“ fragte sie und wandte unwillig den Kopf weg. „Und weßhalb nicht? Will man warten, bis Du von London zurückgekehrt bist, und wenn mit leerer Hand, dann bleibt es für alle Zeit ein ungelichtetes Dunkel? … Nein, dann soll sie wenigstens wissen, daß es ein rechtmäßiger Erbe ist, der ausgestoßen wird aus dem Hause seines Vaters, weil er nichts Schriftliches aufweisen kann. … Max ist so gut Ihr Bruder wie der böse Gestrenge in der Schreibstube!“ sagte sie mit unerbittlicher Entschlossenheit zu der jungen Dame. „Blanka war für ein kurzes Jahr Ihre Mutter, sie war die zweite Frau Ihres verstorbenen Vaters.“

Erschöpft sank ihr Kopf in die Kissen zurück; Margarete aber stand einen Augenblick wie versteinert. Es war weniger die plötzliche rückhaltslose Entschleierung der Thatsache, vor welcher sie erstarrte, als das grelle Licht der Erkenntniß, das in einem einzigen Momente eine ganze Kette, dunkler Vorgänge beleuchtete.

Ja, diese heimliche Ehe war es gewesen, welche die letzten Lebensjahre ihres Vaters so furchtbar verdüstert hatte! Sie wußte jetzt, daß er den Sohn dieser zweiten Ehe zärtlich geliebt und doch den Muth nicht gefunden hatte, ihn öffentlich anzuerkennen. Aber sie wußte auch, daß mit jenem entsetzlichen Moment, wo er fürchten mußte, dieses geliebte Kind läge erschlagen unter den herabgestürzten Dachtrümmern, der feste Entschluß in ihm gereift war, es nunmehr in alle seine Rechte einzusetzen. „Morgen wird es einen Sturm da oben geben, einen Sturm, so wild wie der, unter welchem eben unser altes Haus in seinen Fugen bebt,“ hatte er unter Hinweis auf die obere

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