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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Du aber trotzdem Deinen Kopf behaupten, so verbiete ich Dir hiermit, als Deine Großmutter, ein- für allemal den Besuch und hoffe den Gehorsam zu finden, der sich ziemt!“

Sie nahm ihren Muff vom Tische, zog den Schleier über das Gesicht und wollte sich entfernen; aber Reinhold hielt sie zurück. „Du sprachst von Geld, Großmama?“ fragte er in athemloser Spannung. „Ich will doch nicht hoffen, daß der Mensch da drüben die Unverschämtheit hat, Nachforderungen an unser Haus zu stellen? – Er hat sich wohl gar an Onkel Herbert gewendet?“

„Echauffire Dich nicht, Reinhold!“ beschwichtigte die alte Dame. „Die Sache schwebt sehr in der Luft; wer weiß, ob sie je Grund und Boden findet. Auf alle Fälle aber wissen wir, daß diese Lenzens Schlimmes im Schilde führen – deßhalb kein Mitleid, sage ich! Man verschwendet nicht Wohlthaten an seine notorischen Feinde!“

Sie verließ das Zimmer. Reinhold aber nahm das Körbchen mit den Einmachbüchsen, das Margarete auf den Tisch gestellt hatte, und rief nach Tante Sophie. Sie kam aus der Küche, und er forderte ihr den Kellerschlüssel ab.

„I Gott bewahre! Den bekommst Du nicht – in meinem Einmachkeller hast Du absolut nichts zu suchen!“ erklärte Tante Sophie entschieden. „Bist ja ein gräulicher Topfgucker! … Und den Korb lasse Du nur ruhig stehen – Du hast kein Recht an den Sachen! Das ist Obst aus meinem Garten, das ich jedes Jahr für arme Kranke einkoche.“

Er stellte den Korb schleunigst auf den Tisch zurück; denn das wußte er von Kindesbeinen an, die Tante war die lautere Wahrheit selbst, da gab es für ihn keinen Zweifel. „Nun ja, dann habe ich freilich nichts damit zu schaffen,“ gab er zu, „und Du kannst mit Deinem Obst thun, was Dir beliebt. Nur ins Packhaus darfst Du nichts schicken – das leide ich nicht!“

„So – das leidest Du nicht? Hör’ mal, der Kopf da“ – sie tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn – „der hat seit vierzig Jahren – denn so lange sind meine guten Eltern todt – für sich allein, schnurstracks nach seinem guten Glauben gehandelt und sich nicht drehen und wenden lassen, wie es anderen Leuten gerade paßte, und jetzt will solch ein ‚Kiekindiewelt‘ kommen und mir Vorschriften machen? Das hat selbst Dein seliger Vater nicht gethan!“

„O, der wäre noch ganz anders aufgetreten, wenn er gewußt hätte, daß dieser Mosje Lenz sein Feind im Stillen gewesen ist! Ich habe der Gesellschaft im Packhause nie getraut; ihr scheinheiliges, stilles Gethue ist mir von kleinauf zuwider gewesen. Nun, da der Papa die Augen zugethan hat, nun weisen sie die Zähne – die reine Jesuitengesellschaft! … Von der Großmama aber ist es unverantwortlich, uns solch beunruhigende Nachricht mit ungewissen Andeutungen zuzuraunen – ich hätte auf volle Offenheit bestehen sollen! Aber ich weiß schon, es ist mit ihr nichts anzufangen, wenn sie in ihrem Visitenmantel steckt; da brennt ihr der Boden unter den Füßen, und sie thut, als hinge das Wohl der ganzen Stadt von ihren Besuchen ab. … Na, endlich wirst Du vernünftig, Grete! Recht so, trage Deinen weißen Mantel wieder in den Schrank! Aber denke ja nicht, daß ich dabei an Deine vollständige Bekehrung glaube! Ich werde ein scharfes Auge auf den Hof und das Packhaus haben, darauf verlasse Dich.“

Mit dieser Drohung verließ er die Wohnstube, während Margarete den Mantel über den Arm hing, um ihn fortzutragen.

„Aber sage mir nur, Gretel, was sind denn das für kuriose Geschichten? Was ist’s mit den alten Lenzens?“ rief Tante Sophie, nachdem sich die Thür hinter dem Fortgehenden geschlossen hatte.

„Sie sollen unsere Feinde sein,“ antwortete das junge Mädchen bitter lächelnd.

„Unsinn! Was wird noch Alles in dem oberen Stocke ausgeheckt werden!“ zürnte die Tante. „Wenn der alte Mann mit seinem guten, treuherzigen Gesichte falsch und hinterrücks ist, da kann man nur getrost da zuschließen“ – sie zeigte nach ihrem Herzen – „denn dann taugt die ganze Menschheit nichts und ist nicht werth, daß man sich um ihr Schicksal kümmert! … Aber die Geschichte ist nicht wahr, da will ich gleich meinen kleinen Finger verwetten!“

„Ich glaube so wenig daran wie Du, und alle Andeutungen und Drohungen würden mich nicht abhalten, zu der kranken Frau zu gehen,“ sagte Margarete. „Aber um Reinhold’s willen darf ich nicht. Er wird bei der geringsten Aufregung so blau im Gesicht, und das ängstigt mich unbeschreiblich, Tante! Sein Zustand hat sich offenbar verschlimmert, wenn auch der Arzt es nicht zugeben will. Wie dürfte ich da Etwas thun, das ihn reizt und ärgert? Wir müssen auf andere Mittel und Wege sinnen, der Kranken ein wenig zu Hilfe zu kommen.“

Ein wenig später ging sie hinauf in die Beletage; sie hatte die für den Großpapa bestimmten Zimmer vorläufig lüften und heizen lassen. Die im Oktober beabsichtigte Renovirung der Beletage war bis jetzt selbstverständlich unterblieben; noch standen die Bilder und Spiegel im Gange des spukhaften Seitenflügels.

Nun sollte wieder einiges Leben in die verwaisten Räume kommen, ein Wärmehauch in die eisige Luft des mächtigen Flursaales, von welcher die junge Verwaiste heute meinte, sie halte noch das ganze Wehe der unglückseligen Katastrophe in ihrer Erstarrung gefangen … Hier, wo alle Fenster nach Norden gingen, herrschte ein winterlich trübes Licht, und draußen auf der weiten Schneelandschaft, die sich jenseit der Stadt hinbreitete und fern, fern an den wolkenlos blauen Himmel stieß, glitzerte auch nur der bleichgelbe Schein der späten Nachmittagssonne, Alles so kalt und ohne Leben, so trostlos, als könne es dort nie wieder grün oder in goldenen Halmen aus der Erde steigen, als würden die dürr und schwarz in den Himmel starrenden Aeste der Obstbäume sich nie mehr mit Blüthen bedecken.

Margarete trat in das letzte Fenster des Flursaales. Hier hatte sie die Stimme ihres Vaters zum letzten Mal für dieses Leben gehört, und hier in die tiefe, dunkle Nische war sie nach fünfjähriger Abwesenheit in jugendlichem Uebermuth geschlüpft, um „das neue Lustspiel“ im väterlichen Hause unbemerkt mit anzusehen … Ja, und da war auch der ehemalige Student als erster Beamter der Stadt zu ihr getreten, und sie hatte sich über den „Herrn Landrath“ lustig gemacht und ihn innerlich verspottet … O, daß sie mit all ihrer gerühmten Kraft, ihrem Eigenwillen diesen Standpunkt nicht wieder zu erringen vermochte! Ihre Hand ballte sich unwillkürlich, und ihr Blick fuhr in ohnmächtiger Erbitterung über die weite Welt draußen hin. Aber in diesem Moment erschrak sie und fuhr heftig zurück – der Landrath kam über den Hof, vom Packhausthor her. Er hatte möglicher Weise ihre Zorngeberde beobachtet, denn er lächelte und grüßte herauf, und da floh sie in das für den Großpapa bestimmte Wohnzimmer, den rothen Salon.

Aber ihr schleuniges Zurückziehen half ihr nichts; wenige Augenblicke nachher stand Herbert vor ihr … Er war fast jeden Tag nach Dambach gekommen, um seines Vaters willen, und doch reichte er ihr jetzt so froh die Hand hin, als habe er sie seit lange nicht gesehen.

„Es ist gut, daß Du wieder da bist!“ sagte er. „Nun wollen wir unsern Patienten zusammen pflegen. Aber auch für Dich selbst war es an der Zeit, in dieses Haus mit seinen hohen, luftigen Räumen zurückzukehren – der Aufenthalt in der engen, dumpfen Pavillonstube hat Dir nicht gut gethan, Du bist so blaß geworden.“

Er suchte mit einem sarkastischen Lächeln und doch auch besorgt ihre Augen, aber sie sah weg, und da fuhr er fort: „Das bleiche Mädchengesicht am Fenster hat mich ein wenig erschreckt, als ich aus dem Packhaus trat –“

„Aus dem Packhause?“ fragte sie ungläubig.

„Nun ja, ich habe nach der armen, schwerkranken Frau gesehen – hast Du etwas dagegen einzuwenden, Margarete?“

„Ich? – Ich sollte es Dir verargen, wenn Du so echt menschlich und barmherzig handelst?“ rief sie feurig. Ihr Blick strahlte auf; sie war in diesem Augenblick vollkommen wieder das enthusiastische Mädchen, dem das warme, edle Empfinden das Blut rascher durch die Adern trieb. „Nein, darin denke ich genau wie Du – Onkel!“

„Nun sieh, da habe ich doch endlich einmal Etwas in Deinem Geist und Sinn gethan – ich höre es an dem Herzenston Deiner Stimme! … Wir empfinden Beide jugendlich warm – dazu paßt aber ein ergrauter, knochensteifer Onkel nicht recht; Du fühlst das auch, denn der ehrwürdige Titel kam Dir eben recht schwer von den Lippen – wollen wir ihn nicht lieber begraben, den alten Onkel?“

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